Derrick in Toscana
Der junge Mann hat's schwer, nachdem er an diesem frühen Augustmorgen aus der Diskothek schwankt. Zwar hat er's gerade noch geschafft, sein Auto in Gang zu setzen und den Nachhauseweg einzuschlagen, doch als ihn seine übervolle Blase auf einen Parkplatz und zu Fuß an den Müllcontainer dort treibt, schauen ihm aus dessen Innerem die toten Augen eines Mädchens entgegen. Zwar ist ihm klar, dass er nun die Polizei verständigen muss, doch leider ist der Akku seines Handys leer. Zwar findet er noch eine offene Bar in der Nähe, wo er den Telefonapparat benützen darf, doch hält ihn der diensthabende Polizist am anderen Ende der Leitung für einen besoffenen Scherzkeks und will ihm einfach nicht glauben. Aber Massimo, der barista, hat aufmerksam zugehört; die Sache interessiert ihn, und er fährt mit dem Leidgeprüften zur schönen jungen Lolita-Leiche am unappetitlichen Ort ...
Damit nimmt nicht nur Massimos Alltag Fahrt auf, sondern auch der seiner Stammkundschaft. Das ist im Wesentlichen sein Großvater Ampelio Viviani (82) und dessen drei nur geringfügig jüngere Kumpels. Deren Hauptbeschäftigung ist farsi gli affari degli altri, wobei auch gern giftige / witzige / hintergründige / sexistische / pauschale / herzliche / stockkonservative Kommentare zur heutigen Jugend / dem Fernsehprogramm / den Frauen im Allgemeinen / den eigenen Frauen im Besonderen / den anwesenden Frauen im ganz Besonderen zur Unterhaltung beitragen.
Il bar ist Mittelpunkt italienischen Lebens, und so passiert auch in Pineta, dem fiktionalen Örtchen in der Provinz Livorno, nichts, ohne dass es in Massimos BarLume (ein nettes Wortspiel: lume: Lampe, Licht; barlume: fahler Lichtschein, Schimmer) wahrgenommen und erörtert würde. Bei caffè oder aperitivo erfahren Massimo und sein Ältestenrat vieles aus direkt betroffenem Munde - und vor allem noch vor der Polizei in Gestalt des dottor commissario Vinicio Fusco (35), eines pingeligen, gestelzten Wichtigtuers in seiner Amtsstube.
Massimo, 38 und geschieden, hat nicht nur einen Wissens-, sondern auch einen Intelligenzvorsprung vor Fusco. Er beobachtet, befragt, wertet aus, kombiniert - und ist derjenige, der den Mordfall an der siebzehnjährigen Alina löst. Die Alten hören gespannt zu und kommentieren eifrig (Alla grazia di Derrick!), Fusco manövriert sich durch, so gut es geht, und der Gerichtsmediziner Walter Carli, ein Freund der Familie Alinas, liefert und bezieht sein Wissen ebenfalls in der BarLume. Alle anderen Personen bleiben blass.
Welche Vorzüge hat dieser Erstlingsroman, dass er den Grundstein für den Erfolg seines Autors Marco Malvaldi gelegt hat (siehe Übersicht weiter unten)?
Der unspektakuläre Kriminalfall selbst ist sicher nicht verantwortlich. Die Leiche wird gefunden, ein paar Details zu Indizien und Motiven werden nach und nach in recht ausführlichen Dialogen "enthüllt", mehrfach wiederholt und zusammengefasst - in klassischer Whodunit-Manier; nur am Rande werden Drogen und Sex erwähnt. Auf den letzten Seiten zieht Massimo wie einst Hercule Poirot neueste Funde aus der Tasche und trägt den Rentnern rückschauend die Auflösung aller Rätsel vor (nicht ohne auf Kurt Gödels Überlegungen zu mathematischen Axiomen zu rekurrieren!).
Auch die Personenzeichnung fällt nicht durch Außergewöhnliches auf. Massimo ist nett und nüchtern, gibt sich gern spitzfindig und professionell, wirkt aber bisweilen auch überheblich und etwas künstlich. Die meisten anderen Charaktere können schon fast als Karikaturen durchgehen.
Trotz (Wegen?) dieser Harmlosigkeit ist das Buch eine leichte, amüsante Urlaubslektüre, die uns lesend in die Toskana entführen oder begleiten kann. Aufschlussreich für uns Nicht-Italiener ist, wie so eine Bar "funktioniert" - wann man kommt und geht, wie man gestikuliert, was man zubereitet, trinkt, isst, sagt - und was nicht ... Die bissig-boshaften Scharmützel der Alten sind oft lustig, ebenso wie so manche originelle Bemerkung der anderen Figuren und des Erzählers, zum Beispiel darüber, was passiert, wenn der Mensch zum Autofahrer mutiert (S. 141 f.). Last but not least lernen wir ein Kartenspiel kennen - die titelgebende briscola, die man normalerweise zu viert, aber eben auch in cinque spielen kann; il senato (i beneficiari INPS, la classe del '29 - kurz: die alten Männer) bringen Massimo (und dem Leser) die Regeln und Strategien bei - und fortan va sempre bene, la briscola in cinque, am liebsten fuori all'ombra del tiglio grande ...
Sie möchten das Buch auf Italienisch lesen? Tun Sie das besser nur, wenn Sie einigermaßen fit und flexibel sind, denn Ihr dizionario wird Sie im Stich lassen, wenn die vecchietti in ihrem Dialekt drauflos baldowern. Sie vertauschen "l" und "r" (Fa der [del] male a qualcuno! Te ne trovi un artro [altro]!), lassen viel unter den Tisch fallen (Lui 'un ti vole [non ti vuole] ma nemmen vicino sai? quello che riparava le bicirette [biciclette]), und die Umgangssprache blüht (cavolo, incazzarsi, mi rompano i coglioni). Dann entstehen Preziosen wie diese:
Ci cascan tutti in piedi, con quest'incapacità di intendere e di volere. Vale a di' che se vado in comune e dìo che quando mi sono sposato ero briao, posso anda' dalla mi' moglie e dinni di levassi dalle scatole? (S. 152)
Die Bücher von Marco Malvaldi:
- La briscola in cinque (Sellerio 2007)
Im Schatten der Pineta: Ein Toskana-Krimi (übersetzt von Monika Köpfer; Piper 2011) - Il gioco delle tre carte (Sellerio 2008)
Die Schnelligkeit der Schnecke: Ein Toskana-Krimi (übersetzt von Sigrun Zühlke; Piper 2012) - Il re dei giochi (Sellerio 2010)
- Odore di chiuso (Sellerio 2011)
Das Nest der Nachtigall: Kriminalroman (übersetzt von Luis Ruby; Pendo 2012) - Scacco alla torre (Felici 2011)
- La carta più alta (Sellerio 2012)