Der blinde Fleck Italiens: vom Leben in sterbenden Industrielandschaften
Lucchini ist ein Ortsteil der Industrie- und Hafenstadt Piombino. Gegenüber liegt die malerische Insel Elba. Stahlwerke, Eisenhütten, Kokereien, Hochöfen und diverse Walzstraßen dominieren die Ansicht. Noch vor zwanzig Jahren herrschte hier Hochkonjunktur. Jetzt aber werden die Fabriken geschlossen, rosten vor sich hin, und viele Arbeiter sind entlassen worden. Sie wohnen mit ihren Familien in einer heruntergekommenen Hochhaussiedlung - einem Ort des Elends.
Große Rohre leiten die schädlichen Abwässer ins Meer, der Strand ist voller Abfälle. Niemand würde sich hier gerne niederlassen, aber für die Menschen der Siedlung ist hier das Paradies auf Erden. Francesca und Freundin Anna kann man hier immer treffen. Sie stürzen sich in die Fluten oder räkeln sich auf ihren Laken. Wiewohl noch keine vierzehn Jahre alt, sind sie sich doch schon ihrer schönen Körper bewusst, die die Blicke der Männer auf die leicht verrutschten Bikinis ziehen.
Sie haben sich ewige Freundschaft geschworen und wollen eines Tages gemeinsam weggehen, anders leben als ihre Eltern, aus dem Sumpf von Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Drogen und Gewalt herauskommen, dem Diktat der dominanten männlichen Familienmitglieder entfliehen.
Doch durch Mattia, der lange auf einem Schiff arbeitete und so der Verhaftung durch die Polizei entging, erhält die lesbisch angehauchte Liebe zwischen Francesca und Anna einen nicht zu kittenden Riss, denn Mattia wird Annas Liebhaber. Von nun an gehen die Freundinnen sich bewusst aus dem Weg, und Francesca freundet sich mit Lisa, dem hässlichsten Mädchen der Siedlung an. Kann sie Anna damit eifersüchtig machen, kann es wieder werden wie früher? Wohl kaum ...
Silvia Avallones Erstlingswerk (Originaltitel: "Acciaio") erinnert sehr stark an Filme und Literatur des Neorealismus. Sie zeigt die ungeschminkte Wirklichkeit, die Armut und die Ausbeutung des einfachen Volkes. Die Arbeiter müssen um das bisschen Lohn und ihren Arbeitsplatz bangen, die jungen Menschen träumen wie überall von schicken Klamotten, Autos, Reisen, Familie. Doch das Geld reicht nicht, die Familien verschulden sich, zwangsläufig klauen schon die Jugendlichen Kupfer und alles, was sonst noch Geld bringen könnte, und handeln mit Drogen. Vater Arturo will in großem Stil seiner Familie ein Leben bieten, das ihnen zusteht; wochenlang verschwindet er von der Bildfläche, hat den Ruf eines Paten.
Sivia Avallone beschreibt präzise jedes kleinste Detail der Arbeitsabläufe in dem auf ein Minimum geschrumpften Stahlwerk: die unerträgliche Hitze an den Öfen, der ölige Dreck, die überall und jederzeit lauernden Gefahren, die Arbeiter, die in deftigem Sprachjargon miteinander umgehen, die verstümmelten Katzen, die aus den Rohren kriechen - wie ein Dokumentarfilm laufen die Bilder vor unseren Augen ab.
Neben Francesca und Anna hat Silvia Avallone noch viele weitere Personen erschaffen. Ein Happy End gibt es für keine von ihnen, und keine von ihnen kann ein positives Leitbild setzen, einen hoffnungsvollen Ausweg zeigen. Sie sind nicht fähig, sich in die Gefühlswelt der anderen zu versetzen, und sie kennen sich nicht einmal richtig mit sich selbst aus. Die jungen Leute ziehen Befriedigung allein aus Äußerlichkeiten und der Verfolgung kurzfristiger Ziele: mit dem Auto zu Discos oder Bars heizen, einen Joint ziehen, Frauen aufreißen. Wenn sie schon bald der Frust der Wirklichkeit einholt, erschüttert das auch den Leser. Aus verletzten Gefühlen handeln sie konträr, übernehmen Rollen, die man nie erwartet hätte. Francescas Vater, der sie und ihre Mutter mehrfach krankenhausreif geschlagen hat, wird nach einem schweren Motorradunfall zu einem Pflegefall. Im Innersten haben die Beiden seinen Tod herbeigesehnt, doch dann pflegt die Tochter, so wie der Patriarch es fordert, den völlig auf ihre Hilfe angewiesenen Mann. Schon lange war ihr alles Männliche verhasst - nun spürt sie keine Gefühle mehr in sich. Des Nachts führt sie ein Doppelleben. Ein zutiefst berührendes Psychogramm.
Das bisschen sonniges Strandleben kann das düstere Bild eines Landstrichs, der durch seine abgestorbene Industrie geprägt ist, nicht aufhellen. Silvia Avallone hat ein gesellschaftskritisches Statement abgegeben, das auch die Globalisierung mit ihren Folgen anprangert. Den Zeiten industrieller Blüte folgt der wirtschaftliche Niedergang, und was neben und in den rostigen Ruinen übrig bleibt, sind geschundene, an ihrem Schicksal verzweifelnde Menschen. Wer kann es jemals schaffen, aus diesem sie durch und durch prägenden Milieu auszubrechen, und wie könnte das gelingen? Eine aussichtslose, hoffnungslose und tragische Situation. Hinter den ständig heruntergelassenen Rollläden ihrer Fenster verbergen sich verzweifelte, zu Einsamkeit und Sprachlosigkeit verdammte Menschen.
Um solche Gegenden Italiens fahren wir Touristen einen großen Bogen. Wenn wir uns an adrett gepflegten Stränden erholen und verwöhnen lassen, die leichte Lebensart genießen, dann können wir uns kaum vorstellen, dass die Welt oft nur ein paar Kilometer weiter ganz anders aussieht.
Ein wichtiger Roman, der unsere Augen für bisher Ungesehenes öffnet, und eine erschütternde Geschichte.