Rezension zu »L’eresia del Cannonau« von Gesuino Némus

L’eresia del Cannonau

von


Im berühmtesten Bergdorf der neuesten Literatur Sardiniens verschwindet das Töchterchen gerade angekommener Händler. Die Dorfgemeinschaft erörtert engagiert alle denkbaren Erklärungen und sucht das Kind mit den Spezialisten der Behörden. Ein Mord geschieht, ein Ex-Sträfling verliebt sich, ein Fest wird vorbereitet, lokale Weltanschauungen werden ausgebreitet und Unmengen Cannonau geschluckt.
Kriminalroman · Elliot · · 191 S. · ISBN 9788892760233
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Sardinien

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In Telévras ist die Welt in Ordnung

Rezension vom 19.09.2021 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Gibt es so etwas noch bei uns nördlich der Alpen? In Italien sieht man sie nicht selten, die flie­genden Händler, die mit ihren furgoncini von Ort zu Ort fahren, auf dem Markt­platz eine Zeltplane auf­spannen und Leder­waren, Käse, Kleidung, frutta e verdura, Würste oder Krims­krams feil­bieten und regen Zulauf finden. So kommt eines Winter­abends eine drei­köpfige Familie im Liefer­wagen in Telévras an, einem Bergdorf weitab vom Getriebe der Welt in der Provinz Ogliastra im Osten Sardi­niens. Viele Jahre zuvor waren sie aus Gambia geflohen, jetzt halten sie sich als venditori ambulanti über Wasser. Es ist schon dunkel, also parken sie am Ortsrand und schlafen im Auto, ohne jemandem zur Last zu fallen. Am nächsten Morgen lassen die Eltern ihr elfjäh­riges Töchter­chen im Wagen zurück und gehen die paar Meter ins Dorf, um sich nach den Vor­schriften zu erkun­digen – sie möchten keine Fehler machen. Als sie nach wenigen Minuten zurück­kehren, ist das Mädchen nirgendwo aufzu­finden. Weit kann sie in der kurzen Zeit und bei den eisigen Tempera­turen nicht gekommen sein. Aber sie ist Autistin. Sie spricht nicht, erträgt keinen Lärm, flieht vor jedem lauten Geräusch, vor jedem Fremden, kennt niemanden außer ihren Eltern, lässt sich von niemandem außer ihnen berühren. Ein üblicher Suchtrupp wäre also unange­bracht, könnte nichts aus­richten.

Die Dorfbewohner suchen alles in ihrer Reich­weite ab, erfolglos. Dann findet der Fall nationale Aufmerk­samkeit, Spezial­mann­schaften der Behörden und Medien­vertreter fallen im Dorf ein, das noch nie so einen Auflauf erlebt hat. Während Schnee­fall einsetzt, durch­kämmt man systema­tisch die unweg­samen Wälder, steilen Berghänge und engen Höhlen – ohne die geringste Spur zu finden. Nach vier Tagen sind alle denkbaren Erklä­rungen durchdis­kutiert (eine Entfüh­rung durch zufällig vorbeige­kommene Fremde? oder gar durch Dorfbe­wohner? – ein Mord begangen durch einen merkwür­digen Außen­seiter, der als Eremit weitab wohnt und selbst erschla­gen aufge­funden wird?), aber die Hoffnung, das Kind lebend wiederzu­finden, schwindet. Carabinieri, vigili del fuoco und Journa­listen ziehen ab, auch die Eltern des kleinen Mädchens reisen weiter.

Bemühen Sie sich nicht, während der Lektüre über das Schicksal des Kindes zu grübeln: Sie kommen nie drauf. Uns wird auch nichts erzählt, was einen Hinweis darauf geben könnte, wie uns auch all die Such­aktionen keines­wegs zum Mit­fiebern geschil­dert, sondern nur als Fakt und mit ihrem ausblei­benden Ergebnis benannt werden.

Denn um den Kriminalfall (genauer gesagt, sind es zwei) geht es dem Autor allenfalls am Rande, als Erzähl­anlass sozusagen. Worum dann? Natürlich setzt der Titel ein Thema, aller­dings ohne es eindeutig zu präzi­sieren: »Cannonau« ist der berühm­teste sardische Rotwein (das Wort kommt mindes­tens 120 Mal vor), und »eresia« (etwa 11 Mal) heißt »Ketzerei«. In der Tat verehren und verherr­lichen die Dorfbe­wohner ihren lokalen Rebensaft immer wieder und über­schwäng­lichst, als sei er ein Geschenk des Himmels, sie loben seine diversen woh­ltuenden Wirkungen zwischen Rausch und langem Leben und konsu­mieren ihn liter­weise und immer in Gemein­schaft, am liebsten in der Gastwirt­schaft »Canno­nau&Basta« von Samuele Baccanti. Die ist von früh bis spät geöffnet, meist lebhaft gefüllt und der Dreh- und Angel­punkt des Lebens in Telévras. Hier philo­sophiert (»Come il nostro vitigno dobbiamo essere, piccolis­simi ma fortis­simi, ribelli ma sempre liberi, sardi sempre ma rispet­tosi di tutti al mondo. Eretici, insomma.«), palavert, plant, frotzelt und singt man lauthals, und alle – auch Fremde – sind will­kommen. Der Wirt ist ausge­sprochen frei­giebig, so dass man sich fragt, wovon er eigent­lich lebt. Man fragt sich auch, wie die Einheimi­schen die unglaub­lichen Alkohol­mengen weg­stecken. Zwischen­durch verlauten kritische Stimmen besorgter Frauen, bisweilen lesen wir von Exzessen und ihren Folgen am nächsten Tag, aber ange­sichts der sehr viel häufiger zele­brierten Lobprei­sungen des Weines fürchte ich, mein Blick auf das Buch ist wohl zu bierernst …

Schon dieses Schlaglicht verdeutlicht die allgemeinere Botschaft dieses Romans (lieber ohne »Kriminal-«), wie sie auch schon in Gesuino Némus’ Erstling »Die Theologie des Wild­schweins« durch­schim­merte: Der Autor, geboren in der berühmten Cannonau-Prove­nienz Jerzu, ist derart von Liebe zu seiner Heimat durch­drungen, dass er ihr 2015 mit seinem Debüt ein origi­nelles, aufwän­diges, beeindru­ckend kreatives literari­sches Denkmal gesetzt hat. Der Erfolg war national und inter­national über­zeugend und verlockte zu Fortset­zungen. Davon gibt es inzwi­schen vier, und »L’eresia del Cannonau« ist der fünfte Band (alle bei dem kleinen Verlag Elliot in Rom erschie­nen und mit herr­lichen Covers geschmückt). Was »Die Theo­logie des Wild­schweins« ausge­zeichnet hatte [› Rezension], ist hier noch zu spüren: ein gewal­tiges Überge­wicht an viel­stimmigen Dialogen, eine ganze Reihe Passagen von stilis­tischer Brillanz, witzige battute , kauzige Typen wie »Aedo Pistis, il nostro centenario«, sprechende Namen, viele Zitate und Anspie­lungen auf Literatur und Philo­sophie, originell-hinter­gründige Dialoge und Gesänge in Sardisch (Über­setzung ins Italie­nische folgt immer auf dem Fuße) und allerlei Lokal­kolorit (»S’aprirono le porte delle case, rigorosa­mente senza serratura«) jenseits aller Tümelei. Der Ton der Erzählung schwebt eigen­artig zwischen Ernst und Ironie, Heiter­keit und Melan­cholie. Dozie­rende Stimmen gibt es viele, Zufälle zu viele, offene Fragen etliche, spannende Passagen sehr wenige. Die Luft der Origina­lität und über­borden­den Kreati­vität ist raus.

Was mir bei der Lektüre unangenehm aufstieß, ist die ziemlich offene Selbst­beweih­räuche­rung. In Telévras, so wird zu oft heraus­gekehrt, sind einfach alle Menschen gut, alle sind geduldig, verständ­nisvoll, solida­risch, zutiefst empa­thisch, haben keinerlei egois­tische Züge, teilen alle Güter mitein­ander, stehen alle auf der richtigen Seite. Sie sind stolz auf ihr Traditions­bewusst­sein, beharren auf ihrer Sprache und ihrem knorrigen Wesen, während sie für Leute vom continente, von Nord­italienern ganz zu schweigen, erst einmal Skepsis, wenn nicht Verach­tung übrig haben (»I milanesi. Le uniche persone al mondo che riescono a correre sulle scale mobili. … E si mettono a farli a due a due, i gradini, per gua­dagnare un secondo netto.«). Gleich­wohl findet ein Mailänder Strafent­lassener freund­liche Aufnahme, denn »Che tu sia bianco, nero, giallo, milanese o cara­biniere, se sei in diffi­coltà, nessuno ti lascerà mai per strada«. Ein wahr­haftes Gemein­wesen: »Sì. È che sono, in molti casi, poveris­simi. Vivono del lavoro nei campi, quando ce n’è… Chi non ha vigneti di proprietà viene ingaggiato a giornata. Ci si aiuta l’un l’altro. Il Cannonau dà da mangiare a tutti… oltreché da bere.« Und selbst die Hunde sind hier verständnis­volle, hilfs­bereite Charakter­typen.

Die sprachlichen Ansprüche sind hoch.

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