L’eresia del Cannonau
von Gesuino Némus
Im berühmtesten Bergdorf der neuesten Literatur Sardiniens verschwindet das Töchterchen gerade angekommener Händler. Die Dorfgemeinschaft erörtert engagiert alle denkbaren Erklärungen und sucht das Kind mit den Spezialisten der Behörden. Ein Mord geschieht, ein Ex-Sträfling verliebt sich, ein Fest wird vorbereitet, lokale Weltanschauungen werden ausgebreitet und Unmengen Cannonau geschluckt.
In Telévras ist die Welt in Ordnung
Gibt es so etwas noch bei uns nördlich der Alpen? In Italien sieht man sie nicht selten, die fliegenden Händler, die mit ihren furgoncini von Ort zu Ort fahren, auf dem Marktplatz eine Zeltplane aufspannen und Lederwaren, Käse, Kleidung, frutta e verdura, Würste oder Krimskrams feilbieten und regen Zulauf finden. So kommt eines Winterabends eine dreiköpfige Familie im Lieferwagen in Telévras an, einem Bergdorf weitab vom Getriebe der Welt in der Provinz Ogliastra im Osten Sardiniens. Viele Jahre zuvor waren sie aus Gambia geflohen, jetzt halten sie sich als venditori ambulanti über Wasser. Es ist schon dunkel, also parken sie am Ortsrand und schlafen im Auto, ohne jemandem zur Last zu fallen. Am nächsten Morgen lassen die Eltern ihr elfjähriges Töchterchen im Wagen zurück und gehen die paar Meter ins Dorf, um sich nach den Vorschriften zu erkundigen – sie möchten keine Fehler machen. Als sie nach wenigen Minuten zurückkehren, ist das Mädchen nirgendwo aufzufinden. Weit kann sie in der kurzen Zeit und bei den eisigen Temperaturen nicht gekommen sein. Aber sie ist Autistin. Sie spricht nicht, erträgt keinen Lärm, flieht vor jedem lauten Geräusch, vor jedem Fremden, kennt niemanden außer ihren Eltern, lässt sich von niemandem außer ihnen berühren. Ein üblicher Suchtrupp wäre also unangebracht, könnte nichts ausrichten.
Die Dorfbewohner suchen alles in ihrer Reichweite ab, erfolglos. Dann findet der Fall nationale Aufmerksamkeit, Spezialmannschaften der Behörden und Medienvertreter fallen im Dorf ein, das noch nie so einen Auflauf erlebt hat. Während Schneefall einsetzt, durchkämmt man systematisch die unwegsamen Wälder, steilen Berghänge und engen Höhlen – ohne die geringste Spur zu finden. Nach vier Tagen sind alle denkbaren Erklärungen durchdiskutiert (eine Entführung durch zufällig vorbeigekommene Fremde? oder gar durch Dorfbewohner? – ein Mord begangen durch einen merkwürdigen Außenseiter, der als Eremit weitab wohnt und selbst erschlagen aufgefunden wird?), aber die Hoffnung, das Kind lebend wiederzufinden, schwindet. Carabinieri, vigili del fuoco und Journalisten ziehen ab, auch die Eltern des kleinen Mädchens reisen weiter.
Bemühen Sie sich nicht, während der Lektüre über das Schicksal des Kindes zu grübeln: Sie kommen nie drauf. Uns wird auch nichts erzählt, was einen Hinweis darauf geben könnte, wie uns auch all die Suchaktionen keineswegs zum Mitfiebern geschildert, sondern nur als Fakt und mit ihrem ausbleibenden Ergebnis benannt werden.
Denn um den Kriminalfall (genauer gesagt, sind es zwei) geht es dem Autor allenfalls am Rande, als Erzählanlass sozusagen. Worum dann? Natürlich setzt der Titel ein Thema, allerdings ohne es eindeutig zu präzisieren: »Cannonau« ist der berühmteste sardische Rotwein (das Wort kommt mindestens 120 Mal vor), und »eresia« (etwa 11 Mal) heißt »Ketzerei«. In der Tat verehren und verherrlichen die Dorfbewohner ihren lokalen Rebensaft immer wieder und überschwänglichst, als sei er ein Geschenk des Himmels, sie loben seine diversen wohltuenden Wirkungen zwischen Rausch und langem Leben und konsumieren ihn literweise und immer in Gemeinschaft, am liebsten in der Gastwirtschaft »Cannonau&Basta« von Samuele Baccanti. Die ist von früh bis spät geöffnet, meist lebhaft gefüllt und der Dreh- und Angelpunkt des Lebens in Telévras. Hier philosophiert (»Come il nostro vitigno dobbiamo essere, piccolissimi ma fortissimi, ribelli ma sempre liberi, sardi sempre ma rispettosi di tutti al mondo. Eretici, insomma.«), palavert, plant, frotzelt und singt man lauthals, und alle – auch Fremde – sind willkommen. Der Wirt ist ausgesprochen freigiebig, so dass man sich fragt, wovon er eigentlich lebt. Man fragt sich auch, wie die Einheimischen die unglaublichen Alkoholmengen wegstecken. Zwischendurch verlauten kritische Stimmen besorgter Frauen, bisweilen lesen wir von Exzessen und ihren Folgen am nächsten Tag, aber angesichts der sehr viel häufiger zelebrierten Lobpreisungen des Weines fürchte ich, mein Blick auf das Buch ist wohl zu bierernst …
Schon dieses Schlaglicht verdeutlicht die allgemeinere Botschaft dieses Romans (lieber ohne »Kriminal-«), wie sie auch schon in Gesuino Némus’ Erstling »Die Theologie des Wildschweins« durchschimmerte: Der Autor, geboren in der berühmten Cannonau-Provenienz Jerzu, ist derart von Liebe zu seiner Heimat durchdrungen, dass er ihr 2015 mit seinem Debüt ein originelles, aufwändiges, beeindruckend kreatives literarisches Denkmal gesetzt hat. Der Erfolg war national und international überzeugend und verlockte zu Fortsetzungen. Davon gibt es inzwischen vier, und »L’eresia del Cannonau« ist der fünfte Band (alle bei dem kleinen Verlag Elliot in Rom erschienen und mit herrlichen Covers geschmückt). Was »Die Theologie des Wildschweins« ausgezeichnet hatte [› Rezension], ist hier noch zu spüren: ein gewaltiges Übergewicht an vielstimmigen Dialogen, eine ganze Reihe Passagen von stilistischer Brillanz, witzige battute , kauzige Typen wie »Aedo Pistis, il nostro centenario«, sprechende Namen, viele Zitate und Anspielungen auf Literatur und Philosophie, originell-hintergründige Dialoge und Gesänge in Sardisch (Übersetzung ins Italienische folgt immer auf dem Fuße) und allerlei Lokalkolorit (»S’aprirono le porte delle case, rigorosamente senza serratura«) jenseits aller Tümelei. Der Ton der Erzählung schwebt eigenartig zwischen Ernst und Ironie, Heiterkeit und Melancholie. Dozierende Stimmen gibt es viele, Zufälle zu viele, offene Fragen etliche, spannende Passagen sehr wenige. Die Luft der Originalität und überbordenden Kreativität ist raus.
Was mir bei der Lektüre unangenehm aufstieß, ist die ziemlich offene Selbstbeweihräucherung. In Telévras, so wird zu oft herausgekehrt, sind einfach alle Menschen gut, alle sind geduldig, verständnisvoll, solidarisch, zutiefst empathisch, haben keinerlei egoistische Züge, teilen alle Güter miteinander, stehen alle auf der richtigen Seite. Sie sind stolz auf ihr Traditionsbewusstsein, beharren auf ihrer Sprache und ihrem knorrigen Wesen, während sie für Leute vom continente, von Norditalienern ganz zu schweigen, erst einmal Skepsis, wenn nicht Verachtung übrig haben (»I milanesi. Le uniche persone al mondo che riescono a correre sulle scale mobili. … E si mettono a farli a due a due, i gradini, per guadagnare un secondo netto.«). Gleichwohl findet ein Mailänder Strafentlassener freundliche Aufnahme, denn »Che tu sia bianco, nero, giallo, milanese o carabiniere, se sei in difficoltà, nessuno ti lascerà mai per strada«. Ein wahrhaftes Gemeinwesen: »Sì. È che sono, in molti casi, poverissimi. Vivono del lavoro nei campi, quando ce n’è… Chi non ha vigneti di proprietà viene ingaggiato a giornata. Ci si aiuta l’un l’altro. Il Cannonau dà da mangiare a tutti… oltreché da bere.« Und selbst die Hunde sind hier verständnisvolle, hilfsbereite Charaktertypen.
Die sprachlichen Ansprüche sind hoch.
• »La teologia del cinghiale« (2015)
• »I bambini sardi non piangono mai« (2016)