Rezension zu »Der Flüchtling« von Massimo Carlotto

Der Flüchtling

von


Autobiographie · Tropen · · Gebunden · 184 S. · ISBN 9783608502053
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Norditalien

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Zur falschen Zeit am falschen Ort

Rezension vom 18.11.2010 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Massimo Carlotto schreibt zu Beginn seiner Autobio­graphie »Il fuggiasco«, er packe sechsund­neunzig Kilogramm Gerichts­akten und andere Dokumente in fünf Holz­kisten und deponiere sie im Keller, um sich von seiner eigenen Ver­gangen­heit befreien zu können. Ihr Inhalt doku­mentiert achtzehn Jahre, fast die Hälfte seines Lebens. Der »Caso Carlotto« ist ein kontro­verser Fall der italieni­schen Justizge­schichte.

Als Neunzehnjähriger findet Carlotto im Januar 1976 zufällig eine durch zahl­reiche Messer­stiche ermordete Studentin. Die Poli­zisten, die er selbst sofort gerufen hat, verhaften ihn noch am Tatort unter Mordver­dacht. Seine Zugehörig­keit zur links­radikalen, militan­ten Gruppe »Lotta Continua« macht ihn zwangs­läufig zu einer politisch gefähr­lichen, terroris­tischen Person und somit höchst ver­dächtig, und seine Unschuld kann er nicht zweifels­frei beweisen. Nach wechsel­haften Unter­suchun­gen wird er 1978 wegen Mangels an Beweisen freige­sprochen, im Revisions­prozess des Jahres darauf jedoch zu 18 Jahren Gefängnis verur­teilt.

Nach drei Jahren Haft flieht er in den Unter­grund, lebt mit Verbre­chern und Verfolg­ten, zunächst in Paris, später in Mexiko. Als ihn die dortigen Behörden 1985 zurück in seine Heimat schicken, formiert sich eine inter­nationale Gruppe von privaten Unter­stützern und Menschen­rechtlern, die 1989 die Wieder­aufnahme seines Verfah­rens erreichen. Dieses zieht sich über vier Jahre hin, denn verschie­dene Gerichte und staat­liche Instanzen müssen nicht nur über Carlottos Schuld oder Unschuld ent­scheiden, sondern auch darüber, welche Behörde zuständig ist und welche Prozess­ordnung angewandt werden muss. Elf Prozesse mit 86 Richtern und 50 Gut­achtern steht Carlotto durch – und ist am Ende sterbens­krank. Schließ­lich wird er 1993 vom italieni­schen Staats­präsiden­ten Scalfaro begnadigt. Seine Unschuld wurde ihm jedoch niemals zuerkannt.

Ein Jahr nach seiner Begnadi­gung veröffent­lichte Carlotto seine Autobio­graphie, die nun in der Über­setzung von Hinrich Schmidt-Henkel bei Tropen als deutsch­sprachige Ausgabe vorliegt. Carlotto schildert darin sein Leben auf der Flucht und die letzten Monate der gericht­lichen »Klärungs­versuche«.

Originalausgabe:
»Il fuggiasco«
(1995-2018, ediziono e/o)
Massimo Carlotto: »Il fuggiasco« auf Bücher Rezensionen
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Paris ist seit Generationen ein Ort der Exilanten, und die Menschen dort pflegen eine »Kultur der Solida­rität« mit den Flücht­lingen. Auch Carlotto wird geholfen. Als »Verkleidungs­künstler« tarnt er sich in ständig neuen Rollen, muss seine Quartiere immer wieder wechseln, fühlt sich schnell beob­achtet und verfolgt. Er wird psychisch krank, Panik­attacken über­fallen ihn, er wird fress­süchtig. Aber seine Schreie der eigenen Verzweif­lung verstum­men ange­sichts der Schrecken, die die illegalen und politi­sches Asyl suchenden Flücht­linge aus Ländern wie der Türkei, Argen­tinien, Chile usw. hinter sich haben oder noch durch­leiden müssen.

Seine übersteigerte Angst vor Verfolgung treibt ihn nach Mexiko, dem Moloch Mittel­amerikas. In seiner maßlos über­bevölker­ten Haupt­stadt mit hoher Arbeits­losigkeit, Armut, organi­sierter Krimina­lität, Korrup­tion auf allen Ebenen und Klein­krimina­lität an allen Ecken geht ohne Schmier­geld gar nichts. Kann eine Stadt, in der man kaum atmen kann wegen der Industrie­gifte und Verkehrs­abgase, die die Stadt zum Erliegen bringen, wirklich zur Heimat werden? Gefühls­mäßig hin und her gerissen, ent­schließt Carlotto sich zu bleiben. Er wendet sich an einen Anwalt, der dickes Geld verlangt, ihm aber Papiere beschaf­fen will. Noch lieber verrät er ihn freilich an die Polizei. Vierzehn Tage verbringt Carlotto in der »Calle de Soto«, einer unmensch­lichen Haft­anstalt, in der er brutal gefoltert wird. Dann folgt der Abflug nach Italien.

Massimo Carlotto hat Unfassbares durchlitten. Trotzdem kann er ziemlich abge­klärt über seine Zeit als Exilant schreiben – manchmal sogar schockie­rend amüsant porträ­tieren: Bernhard, der Finanz­berater; Lucien, der Tourist; Jason, der englische Computer­experte ohne Computer und Englisch­kennt­nisse ...

Nach seiner Freilassung 1993 beginnt Carlotto sein zweites Leben: Er wird Krimi-Autor und ist damit sehr erfolg­reich. 2002 erhielt er für den Roman »Il maestro di nodi« den Premio Giorgio Scerba­nenco für den besten italieni­schen Kriminal­roman des Jahres (bisher nicht übersetzt). Carlotto, der heute in Cagliari auf Sardinien lebt, thema­tisiert oft die mafiöse Durch­setzung und die korrupten Struk­turen der italieni­schen Gesell­schaft.

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass auch Carlottos Roman »Der Flüchtling« in das Krimi-Genre gedrückt wird. Doch wird ihm dieses Etikett nicht gerecht; es ist zu billig, zu ober­flächlich. Carlotto hat vielmehr eine Dokumen­tation geschaf­fen, die eine Anklage ist gegen die Behand­lung von politisch Inhaf­tierten. Weltweit wird in den Gefäng­nissen die Würde der Menschen verletzt. Guanta­namo und die von George W. Bush höchst­selbst geneh­migten (und noch heute von ihm gutgehei­ßenen) Folter­methoden sind Belege dafür, dass wir nicht mit dem Finger auf Russland, China, Iran und ähnliche mehr oder weniger demo­kratische Staaten zeigen müssen – selbst unsere engsten Bündnis­partner haben eine erstaun­lich niedrige Hemm­schwelle im Umgang mit den Menschen­rechten von Gefan­genen. Dieser Roman ist ein Zeit­zeugnis, das breite Aufmerk­samkeit verdient.


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