Zur falschen Zeit am falschen Ort
Massimo Carlotto schreibt zu Beginn seiner Autobiographie »Il fuggiasco«, er packe sechsundneunzig Kilogramm Gerichtsakten und andere Dokumente in fünf Holzkisten und deponiere sie im Keller, um sich von seiner eigenen Vergangenheit befreien zu können. Ihr Inhalt dokumentiert achtzehn Jahre, fast die Hälfte seines Lebens. Der »Caso Carlotto« ist ein kontroverser Fall der italienischen Justizgeschichte.
Als Neunzehnjähriger findet Carlotto im Januar 1976 zufällig eine durch zahlreiche Messerstiche ermordete Studentin. Die Polizisten, die er selbst sofort gerufen hat, verhaften ihn noch am Tatort unter Mordverdacht. Seine Zugehörigkeit zur linksradikalen, militanten Gruppe »Lotta Continua« macht ihn zwangsläufig zu einer politisch gefährlichen, terroristischen Person und somit höchst verdächtig, und seine Unschuld kann er nicht zweifelsfrei beweisen. Nach wechselhaften Untersuchungen wird er 1978 wegen Mangels an Beweisen freigesprochen, im Revisionsprozess des Jahres darauf jedoch zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt.
Nach drei Jahren Haft flieht er in den Untergrund, lebt mit Verbrechern und Verfolgten, zunächst in Paris, später in Mexiko. Als ihn die dortigen Behörden 1985 zurück in seine Heimat schicken, formiert sich eine internationale Gruppe von privaten Unterstützern und Menschenrechtlern, die 1989 die Wiederaufnahme seines Verfahrens erreichen. Dieses zieht sich über vier Jahre hin, denn verschiedene Gerichte und staatliche Instanzen müssen nicht nur über Carlottos Schuld oder Unschuld entscheiden, sondern auch darüber, welche Behörde zuständig ist und welche Prozessordnung angewandt werden muss. Elf Prozesse mit 86 Richtern und 50 Gutachtern steht Carlotto durch – und ist am Ende sterbenskrank. Schließlich wird er 1993 vom italienischen Staatspräsidenten Scalfaro begnadigt. Seine Unschuld wurde ihm jedoch niemals zuerkannt.
Ein Jahr nach seiner Begnadigung veröffentlichte Carlotto seine Autobiographie, die nun in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel bei Tropen als deutschsprachige Ausgabe vorliegt. Carlotto schildert darin sein Leben auf der Flucht und die letzten Monate der gerichtlichen »Klärungsversuche«.
Paris ist seit Generationen ein Ort der Exilanten, und die Menschen dort pflegen eine »Kultur der Solidarität« mit den Flüchtlingen. Auch Carlotto wird geholfen. Als »Verkleidungskünstler« tarnt er sich in ständig neuen Rollen, muss seine Quartiere immer wieder wechseln, fühlt sich schnell beobachtet und verfolgt. Er wird psychisch krank, Panikattacken überfallen ihn, er wird fresssüchtig. Aber seine Schreie der eigenen Verzweiflung verstummen angesichts der Schrecken, die die illegalen und politisches Asyl suchenden Flüchtlinge aus Ländern wie der Türkei, Argentinien, Chile usw. hinter sich haben oder noch durchleiden müssen.
Seine übersteigerte Angst vor Verfolgung treibt ihn nach Mexiko, dem Moloch Mittelamerikas. In seiner maßlos überbevölkerten Hauptstadt mit hoher Arbeitslosigkeit, Armut, organisierter Kriminalität, Korruption auf allen Ebenen und Kleinkriminalität an allen Ecken geht ohne Schmiergeld gar nichts. Kann eine Stadt, in der man kaum atmen kann wegen der Industriegifte und Verkehrsabgase, die die Stadt zum Erliegen bringen, wirklich zur Heimat werden? Gefühlsmäßig hin und her gerissen, entschließt Carlotto sich zu bleiben. Er wendet sich an einen Anwalt, der dickes Geld verlangt, ihm aber Papiere beschaffen will. Noch lieber verrät er ihn freilich an die Polizei. Vierzehn Tage verbringt Carlotto in der »Calle de Soto«, einer unmenschlichen Haftanstalt, in der er brutal gefoltert wird. Dann folgt der Abflug nach Italien.
Massimo Carlotto hat Unfassbares durchlitten. Trotzdem kann er ziemlich abgeklärt über seine Zeit als Exilant schreiben – manchmal sogar schockierend amüsant porträtieren: Bernhard, der Finanzberater; Lucien, der Tourist; Jason, der englische Computerexperte ohne Computer und Englischkenntnisse ...
Nach seiner Freilassung 1993 beginnt Carlotto sein zweites Leben: Er wird Krimi-Autor und ist damit sehr erfolgreich. 2002 erhielt er für den Roman »Il maestro di nodi« den Premio Giorgio Scerbanenco für den besten italienischen Kriminalroman des Jahres (bisher nicht übersetzt). Carlotto, der heute in Cagliari auf Sardinien lebt, thematisiert oft die mafiöse Durchsetzung und die korrupten Strukturen der italienischen Gesellschaft.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass auch Carlottos Roman »Der Flüchtling« in das Krimi-Genre gedrückt wird. Doch wird ihm dieses Etikett nicht gerecht; es ist zu billig, zu oberflächlich. Carlotto hat vielmehr eine Dokumentation geschaffen, die eine Anklage ist gegen die Behandlung von politisch Inhaftierten. Weltweit wird in den Gefängnissen die Würde der Menschen verletzt. Guantanamo und die von George W. Bush höchstselbst genehmigten (und noch heute von ihm gutgeheißenen) Foltermethoden sind Belege dafür, dass wir nicht mit dem Finger auf Russland, China, Iran und ähnliche mehr oder weniger demokratische Staaten zeigen müssen – selbst unsere engsten Bündnispartner haben eine erstaunlich niedrige Hemmschwelle im Umgang mit den Menschenrechten von Gefangenen. Dieser Roman ist ein Zeitzeugnis, das breite Aufmerksamkeit verdient.