Rezension zu »XY« von Sandro Veronesi

XY

von


Belletristik · Klett-Cotta · · Gebunden · 394 S. · ISBN 9783608939606
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Norditalien

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Der kristallin-blutrot-eisgetränkte Lebensbaum

Rezension vom 19.06.2011 · 4 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

Außerhalb des winzigen italienischen Borgo San Giuda im Trentino hat im tiefen Winter ein entsetzliches Massaker an elf Menschen stattgefunden. Der Tag, an dem der Pferdeschlitten pünktlich wie immer auf dem Kirchplatz steht, jedoch ohne seinen Kutscher Beppo Formento und dessen Touristen, wird das Leben der kleinen Gemeinschaft restlos verändern. Das Pferd Zorro, das den Schlitten gezogen hatte, ist erregt; seine Augen verraten, dass es völlig verängstigt ist.

Der Pfarrer Don Ermete, Beppos Vater Sauro Formento und sein Sohn Zeno starten sofort ihre Motorschlitten, um nach Beppo und seinen Kunden zu suchen. Zunächst erreichen sie den Baum, den Beppo für die Touristen präpariert hatte: Mit Wasser besprüht wird er in der eisigen Kälte zu einem durchsichtigen kristallinen Naturphänomen. Doch heute erregt er nicht nur Staunen, sondern blanken Horror: Durch und durch ist er rot gefärbt - von Blut. Vater Sauro zerreißt die Stille mit einem gellenden Schrei, als er unter dem Schnee vor seinen Füßen den abgetrennten Kopf seines Bruders Beppo entdeckt. Und unter den Schneehaufen rund herum finden sie viele weitere Körperteile.

Was, warum und durch wen ist das geschehen? Zunächst übernimmt die Staatsanwaltschaft die Untersuchungen. Man denkt in alle Richtungen: Terroristen, Sicherheitsdienste usw. Da die Recherchen ergebnislos bleiben, fälscht man schließlich Obduktionsergebnisse und Protokolle und unterwirft den Fall strikter Geheimhaltung.

Erzählt wird der Roman aus der Perspektive des Dorfpfarrers Don Ermete und der Psychiaterin Giovanna Gassion. Bei Giovanna war genau zum Zeitpunkt des Massakers eine Narbe an einem Finger, in den sie sich mehr als zehn Jahre zuvor unglücklicherweise geschnitten hatte, ohne ersichtliche Ursache wieder aufgebrochen. Weder die Ärzte noch Recherchen im Internet halfen ihr, dieses Phänomen zu erklären. Don Ermete hat eine Zeitlang in Mindanao gearbeitet und in Lima das Ordensgelübde auf San Giuda (Judas) abgelegt. Als er nach Italien zurückkehrt, entscheidet er sich bewusst für das kleine Seelendorf San Giuda und leistet dort jahrelange Überzeugungsarbeit, bis die Gemeinde schließlich in ihrer Dorfkirche den Heiligen Judas verehrt, der in Italien und anderswo als Verräter Jesu abgelehnt wird. Don Ermete ist stolz, sie beten gelehrt zu haben.

Während der täglichen Verhöre fühlt sich Don Ermete als Opfer von Amtsmissbrauch, wie zum Eigentum des Staatsanwalts erniedrigt, welcher ihm unterstellt, er wolle nicht preisgeben, was er wisse. Solchermaßen ausgeliefert, verliert er immer mehr die Zugehörigkeit zu seiner Gemeinde. Fragen, die er sich kaum zu stellen wagt - darüber, was wirklich geschehen ist -, und quälende Zweifel stürzen ihn in eine tiefe Leere. Er glaubt an Gott, Maria, die Heiligen, die Sakramente, die Geheimnisse, die Wunder - und an Satan. War das Blutbad etwas Übernatürliches? War es eine Fügung Satans - oder Gottes, der, wie die Bibel berichtet, in seiner Allmacht auch Massaker und Zerstörungen ausführen ließ? Aber warum hat er ausgerechnet die wenigen Menschen von San Giuda auserwählt?

Nach dem grausamen Geschehen haben viele Einwohner den Ort fluchtartig verlassen; sechs sind gleichzeitig verstorben. Die übrigen - gerade einmal zwanzig und fast alle sehr alt - sind traumatisiert und bedürfen dringend psychiatrischer Betreuung. Auf Bitten Don Ermetes kommt Giovanna ins Dorf - als praktische Ärztin, denn als Psychiaterin würde sie bei niemandem Einlass finden. Doch was kann sie erreichen? Diese Menschen leben seit jeher in völliger Abgeschiedenheit ohne Fernsehen und Zeitung; das Telefon des Pfarrhauses ist ihre einzige Verbindung zur Außenwelt gewesen. Unterschiedliche krankhafte Erscheinungsbilder zeugen von der Inzucht unter den vier Stammfamilien.

Giovanna und Don Ermete stützen sich gegenseitig, tauschen ihre Gedanken aus, glauben beide zu wissen, was im Wald geschehen ist. Doch was? Sandro Veronesi lässt sie keine handgreifliche, rationale, logisch stimmige Antwort ausdrücken. Er konfrontiert den Leser mit Fragen nach Gott, dem Tod, der Wirksamkeit der Psychoanalyse und lässt auch verschiedene Formen des Traums als Möglichkeit, das Massaker zu verstehen, offen. Don Ermete erwähnt "den zweiten Tod", den Franz von Assisi als "Tod der Seele" (S. 365) bezeichnet. Ist das der Endzustand der Dörfler?

Giovanna muss sich ihr Scheitern eingestehen, kann sie doch die Menschen nicht wirklich heilen. Für sie und Don Ermete hat der Autor noch einen Ausweg anzubieten, den sie gehen, bevor auch sie dem Wahnsinn anheim fallen.

Dieser Roman ist sicher nicht nach jedermanns Geschmack. Zwar ist er prall gefüllt mit Handlung, aber gegen deren Auslegung - die Deutungsoptionen für das Blutbad - mag sich mancher energisch sträuben. Da ist viel Fragwürdiges, viel Konstruiertes, viel Pseudowissenschaftliches (soweit ich das beurteilen kann).

Die beiden Buchstaben "XY" tauchen weder als Zeichen an Bäumen, Häusern, im Totenkult o.ä. noch überhaupt im Text auf. Auf dem Cover sind sie zu einem Symbol verschmolzen. Steht es, da XX das weibliche Chromosom, XY das männliche ist, damit für "den Menschen" schlechthin - oder für die beiden Protagonisten? Ich weiß es nicht und überlasse Sie Ihren eigenen Interpretationen, ähnlich wie Sandro Veronesi Ihnen viele Denkanstöße hinterlässt ...


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Kommentare

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Zu »XY« von Sandro Veronesi wurden 1 Kommentare verfasst:

N. Tholen schrieb am 24.03.2016:

Nach dieser Besprechung drängt es mich nicht, das einst hoch gelobte Buch zu lesen. Ich frage mich: Was soll das alles? So viel Geheimniskrämerei?
Es ist übrigens bewunderswert, mit welcher Konsequenz hier Bücher besprochen werden.

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