Rezension zu »Die Nacht von Rom« von Giancarlo de Cataldo und Carlo Bonini

Die Nacht von Rom

von


Thriller · Folio · · Gebunden · 304 S. · ISBN 9783852567006
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Rom

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Das dunkle Jahr der Barmherzigkeit

Rezension vom 20.11.2016 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Am heutigen Sonntag (20. November 2016) geht ein »Heiliges Jahr« zu Ende. Die ganze Welt horchte auf, als Papst Franzis­kus es im März 2015 völlig uner­wartet ankün­digte, denn planmäßig wäre wohl erst ab 2025 wieder mit einem annus sanctus zu rechnen gewesen. »Das ist die Zeit der Barm­herzig­keit. Es ist wichtig, dass die Gläubigen sie leben und in alle Gesell­schafts­bereiche hinein­tragen. Vorwärts!«, so ermu­tigte der Papst die Christen.

Die Römer stöhnen auf, als sie die frohe Botschaft vernehmen. Das Jahr der Gnade wird statt der 13,4 Millionen Touristen des Jahres 2014 womöglich 33 Millionen Menschen über sie herein­brechen lassen. Wie soll man sie alle unter­bringen, wie verkös­tigen, wie trans­portieren, wie ihren Müll entsorgen, wo doch all das mit den fast drei Millionen Römern kaum gelingt? Die Infra­struktur der uralten Millionen­stadt ist ein ewiges Provi­sorium, ein perma­nentes Ärgernis. Am vor­dring­lichsten ist wohl die Fort­führung der U-Bahn-Linie C, die die Menschen­massen zügig ins Zentrum der Stadt bringen soll, wo eine Kultur­stätte neben der anderen lockt und das wirt­schaft­liche und politische Herz Italiens pocht.

Eine ganze Menge Leute aber bekommen angesichts der päpstlichen Ansage eines »Jubi­läums der Barm­herzig­keit« rote Ohren vor Eifer. Ein Konglo­merat von Politi­kern, Unter­nehmern, vatika­nischen Würden­trägern und Clan­führern ehren­werter Gesell­schaften wittert lukrative Morgen­luft. Im Jahr der Nächsten­liebe will jeder auf seine Weise partizi­pieren: gegen ange­messene Provision Bezie­hungen und Geschäfte ver­mitteln, Aufträge ein­heimsen und dreist nach­bessern, Wohltaten ein­fordern und demütig entgegen­neh­men – kurz: ein ›Jubiläum des Eigen­nutzes‹ feiern.

Italienische Originalausgabe:
»La notte di Roma«
(2015, Verlag Einaudi)
Giancarlo de Cataldo, Carlo Bonini »La notte di Roma« auf Bücher Rezensionen
Giancarlo de Cataldo, Carlo Bonini »La notte di Roma« bei Amazon

Von ihnen erzählen Giancarlo de Cataldo und Carlo Bonini in ihrem Thriller »La notte di Roma« Giancarlo de Cataldo: »La notte di Roma« bei Amazon, den der Folio-Verlag jetzt in der Über­setzung von Karin Fleischanderl den deutsch­sprachigen Lesern vorlegt. Die beiden Autoren, Richter der eine, Jour­nalist der andere, sind mit den realen Vorgängen bestens vertraut und können deren fiktionale Dar­stellung deshalb so aufbe­reiten, dass manche Schlüssel­figur und mancher Skandal als Anspie­lung verstanden wird. Gleich­zeitig schaffen sie Distanz, indem sie die schockie­rende Realität als sati­risches Theater einkleiden.

Der Spaß beginnt schon auf den ersten Seiten. Dort werden die dramatis personae, die handeln­den Perso­nen, wie bei Shake­speare nach ihrem Stand aufge­listet (»Die aus den Palästen«, »Die aus der Zwischen­welt«, »Die von der Straße«, »Der Chor«) und gleich mit einer amüsant-ironi­schen Bemer­kung ein­sortiert (»Monsignor Giovanni Daré: aus den Himmels­höhen«, »Chiara Visone: niemand regiert in Unschuld«). Jedem Kapitel sind Handlungs­ort und -zeit (inklusive dem Heiligen des Tages) voran­gestellt, Pro- und Epilog rahmen das Ganze.

Mit der Leichtigkeit des unterhaltsamen Grundtons kontrastiert, was uns die beiden Autoren auf­tischen. Dem amüsierten Leser müssen sich die Nacken­haare kräuseln, wenn er sich vor Augen hält, dass all die politi­schen und klerikalen Ränke­spiele, die wahren Kriege in Mafia-Kreisen und die eiskalt durch­gesetzte Raffgier der Individuen frisch der römi­schen Realität entlehnt sind.

Der Drei-Milliarden-Euro-Auftrag, die spektakuläre U-Bahn-Linie schlüssel­fertig zu erstellen, war bereits 2006 an ein Kartell vergeben worden. Wie zu erwarten, reihen sich die Hinder­nisse – »Zuerst Über­reste einer antiken Villa. Dann Quellen, ärger als im Karst. Dann war das Geld ausge­gangen«. Nach­verhand­lun­gen haben den Charakter von Selbst­bedienung, denn die Verwal­tung ist ent­schlossen, das Prestige­projekt durchzu­ziehen.

De Cataldo und Bonini schildern die Ereignisse vom 12. März bis 20. April 2015 mit einem Rück- und einem Ausblick von je einem Monat. Die Baustelle ruht wieder einmal. Zwischen der Basilica di San Gio­vanni und den Fori Imperiali klafft ein riesiges Loch, in dem bereits Un­summen versackt sind. Wann und wie es weiter­geht, hält Martin Giardino in seinen bislang sauberen Händen. Wegen seiner Herkunft aus dem abge­legenen Süd­tiroler Bruneck als »Mars­mensch« betrach­tet und als »der Deutsche« bezeich­net, ist er gerade erst frisch im Bürger­meister­amt. Vielen gilt er als wahre Licht­gestalt, aufrecht und anständig. Für manche ist er freilich gerade deshalb ein »ver­damm­tes Arschloch«, an dessen Stuhl man zu sägen wissen wird. Einer, der dabei gerne mit­wirken wird, ist sein Vize Temis­tocle Malgradi, ein aalglatter Typ mit direktem Draht zur krimi­nellen Parallel­gesell­schaft.

Der Bürgermeister und ein junger Bischof sind die einzigen integren Persön­lichkeiten auf weiter Flur, das Übel hingegen ist all­gegen­wärtig. Jede Menge wider­wärtige Fies­linge schicken die Autoren auf die düstere Bühne. Die Cosa Nostra hat lang­jährige Erfah­rungen mit Druck­mitteln aller Art. Wenn irgend­welche Gremien, Vergabe­aus­schüsse oder Ent­schei­dungs­träger Schwierig­keiten haben, die Ent­wicklung in die vorge­sehene Richtung zu lenken, dann hilft man gerne nach. Mal gibt es Spenden, mal geschehen Unfälle, mal stirbt jemand ganz unerwartet.

Oberster Strippenzieher ist ein faschistischer Krimineller, den man »Samurai« nennt. Der Sechzig­jährige regiert über eine gut geschmierte und stabil ver­schraubte Maschi­nerie von großen und kleinen Rädchen auf allen Ebenen der Ver­waltung und der Politik. Sein Handicap: Er sitzt gerade im Knast ein und hat dort noch gute fünf­zehn Jahre vor sich.

Kein Wunder, dass schon ein Bewerber um seine Nachfolge mit den Hufen scharrt. Fabio Desideri, zwanzig Jahre jünger, gut durch­trainiert und vor allem ein freier Mann, dirigiert von seiner noblen Villa aus ein stetig wach­sendes Impe­rium von Lokalen in den angesag­testen Vierteln Roms. Der vulgäre und vitale Typ weiß alle anderen das Fürchten zu lehren. Am liebsten lässt er Albaner für sich arbeiten, denn sie haben sich nicht nur als Drogen­dealer auf der Straße, sondern auch als Per­sonen­schützer und als aus­führende Organe für heikle Aufträge mit töd­lichem Ausgang bewährt.

Doch sicher kann sich in jenen Zirkeln niemand fühlen. Tatsächlich ist da schon einer ange­treten, der Fabio quasi über­holen will. Sebastiano Laurenti, den der »Samurai« zu seinem Statt­halter erkoren hat, bildet sich ein, er könne Fabio aus­schalten und sich selbst als Erbe seines Gönners pro­klamieren. So einen Werde­gang hätte man dem Empor­kömm­ling gar nicht zuge­traut. Er entstammt einer gut­bürger­lichen, tugend­haften Familie. Sein Vater führte eine solide Hoch- und Tiefbau­firma und ließ sich niemals auf Kor­ruption ein. Sein Sohn ist aus anderem Holz geschnitzt: Er will um jeden Preis ganz nach oben.

Ein beliebtes und bewährtes Foltergerät der ehrenwerten Gesellschaft ist der Streik städtischer Betriebe. Mal stehen die öffent­lichen Verkehrs­mittel still, mal wird der Müll nicht abgeholt. »Rom soll im eigenen Dreck ersticken«, genau eine Woche lang, lautet Sebastianos Auftrag, stil­sicher garniert mit fünfzig­tausend Euro in einem Müllsack, an einen schmie­rigen Mittels­mann.

In diesem Netzwerk fiktiv benamter Akteure erscheinen die politi­schen Parteien – vor allem der »Partito Demo­cratico« (PD, die Partei des Minister­präsi­denten Matteo Renzi) und die junge Protest­bewe­gung »MoVi­mento 5 Stelle« (M5S, »Fünf-Sterne-Bewe­gung«) – ganz unver­hüllt im Klartext. Das verschärft, jeden­falls für italie­nische Leser, die Brisanz des Thrillers als Spiegel realer Verhält­nisse. Eine junge auf­strebende Politi­kerin des (Roman-) PD ist Chiara Visone, eiskalt, karriere­süchtig und ihrer Stärken und Waffen bewusst (nicht nur Sebastiano Laurenti verfällt ihnen). In ihr sehen viele eine Anspie­lung auf Maria Elena Boschi, dem (echten) PD zugehö­rige loyale Renzi-Unter­stützerin und seit Februar 2014 Minis­terin für Renzis geplante große Ver­fassungs­reform.

Giancarlo de Cataldo und Carlo Bonini haben ein ebenso viel­schich­tiges wie span­nendes, amü­santes wie de­primie­rendes Porträt der ewigen Stadt am Tiber gezeich­net. Trotz Chaos und Verfall strotzt sie vor Vitalität und Über­lebens­willen, Initiative und Geschäfts­tüchtig­keit. Um sich in der öffent­lichen Unord­nung durch­zu­schlagen, helfen Improvi­sations­talent, Egoismus und Rück­sichts­losig­keit, und wer besonders viel davon mitbringt, kann es mit Geschick, Geschenken und Gewalt bis an die Spitze schaffen.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2016 aufgenommen.


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