Das dunkle Jahr der Barmherzigkeit
Am heutigen Sonntag (20. November 2016) geht ein »Heiliges Jahr« zu Ende. Die ganze Welt horchte auf, als Papst Franziskus es im März 2015 völlig unerwartet ankündigte, denn planmäßig wäre wohl erst ab 2025 wieder mit einem annus sanctus zu rechnen gewesen. »Das ist die Zeit der Barmherzigkeit. Es ist wichtig, dass die Gläubigen sie leben und in alle Gesellschaftsbereiche hineintragen. Vorwärts!«, so ermutigte der Papst die Christen.
Die Römer stöhnen auf, als sie die frohe Botschaft vernehmen. Das Jahr der Gnade wird statt der 13,4 Millionen Touristen des Jahres 2014 womöglich 33 Millionen Menschen über sie hereinbrechen lassen. Wie soll man sie alle unterbringen, wie verköstigen, wie transportieren, wie ihren Müll entsorgen, wo doch all das mit den fast drei Millionen Römern kaum gelingt? Die Infrastruktur der uralten Millionenstadt ist ein ewiges Provisorium, ein permanentes Ärgernis. Am vordringlichsten ist wohl die Fortführung der U-Bahn-Linie C, die die Menschenmassen zügig ins Zentrum der Stadt bringen soll, wo eine Kulturstätte neben der anderen lockt und das wirtschaftliche und politische Herz Italiens pocht.
Eine ganze Menge Leute aber bekommen angesichts der päpstlichen Ansage eines »Jubiläums der Barmherzigkeit« rote Ohren vor Eifer. Ein Konglomerat von Politikern, Unternehmern, vatikanischen Würdenträgern und Clanführern ehrenwerter Gesellschaften wittert lukrative Morgenluft. Im Jahr der Nächstenliebe will jeder auf seine Weise partizipieren: gegen angemessene Provision Beziehungen und Geschäfte vermitteln, Aufträge einheimsen und dreist nachbessern, Wohltaten einfordern und demütig entgegennehmen – kurz: ein ›Jubiläum des Eigennutzes‹ feiern.
Von ihnen erzählen Giancarlo de Cataldo und Carlo Bonini in ihrem Thriller »La notte di Roma« , den der Folio-Verlag jetzt in der Übersetzung von Karin Fleischanderl den deutschsprachigen Lesern vorlegt. Die beiden Autoren, Richter der eine, Journalist der andere, sind mit den realen Vorgängen bestens vertraut und können deren fiktionale Darstellung deshalb so aufbereiten, dass manche Schlüsselfigur und mancher Skandal als Anspielung verstanden wird. Gleichzeitig schaffen sie Distanz, indem sie die schockierende Realität als satirisches Theater einkleiden.
Der Spaß beginnt schon auf den ersten Seiten. Dort werden die dramatis personae, die handelnden Personen, wie bei Shakespeare nach ihrem Stand aufgelistet (»Die aus den Palästen«, »Die aus der Zwischenwelt«, »Die von der Straße«, »Der Chor«) und gleich mit einer amüsant-ironischen Bemerkung einsortiert (»Monsignor Giovanni Daré: aus den Himmelshöhen«, »Chiara Visone: niemand regiert in Unschuld«). Jedem Kapitel sind Handlungsort und -zeit (inklusive dem Heiligen des Tages) vorangestellt, Pro- und Epilog rahmen das Ganze.
Mit der Leichtigkeit des unterhaltsamen Grundtons kontrastiert, was uns die beiden Autoren auftischen. Dem amüsierten Leser müssen sich die Nackenhaare kräuseln, wenn er sich vor Augen hält, dass all die politischen und klerikalen Ränkespiele, die wahren Kriege in Mafia-Kreisen und die eiskalt durchgesetzte Raffgier der Individuen frisch der römischen Realität entlehnt sind.
Der Drei-Milliarden-Euro-Auftrag, die spektakuläre U-Bahn-Linie schlüsselfertig zu erstellen, war bereits 2006 an ein Kartell vergeben worden. Wie zu erwarten, reihen sich die Hindernisse – »Zuerst Überreste einer antiken Villa. Dann Quellen, ärger als im Karst. Dann war das Geld ausgegangen«. Nachverhandlungen haben den Charakter von Selbstbedienung, denn die Verwaltung ist entschlossen, das Prestigeprojekt durchzuziehen.
De Cataldo und Bonini schildern die Ereignisse vom 12. März bis 20. April 2015 mit einem Rück- und einem Ausblick von je einem Monat. Die Baustelle ruht wieder einmal. Zwischen der Basilica di San Giovanni und den Fori Imperiali klafft ein riesiges Loch, in dem bereits Unsummen versackt sind. Wann und wie es weitergeht, hält Martin Giardino in seinen bislang sauberen Händen. Wegen seiner Herkunft aus dem abgelegenen Südtiroler Bruneck als »Marsmensch« betrachtet und als »der Deutsche« bezeichnet, ist er gerade erst frisch im Bürgermeisteramt. Vielen gilt er als wahre Lichtgestalt, aufrecht und anständig. Für manche ist er freilich gerade deshalb ein »verdammtes Arschloch«, an dessen Stuhl man zu sägen wissen wird. Einer, der dabei gerne mitwirken wird, ist sein Vize Temistocle Malgradi, ein aalglatter Typ mit direktem Draht zur kriminellen Parallelgesellschaft.
Der Bürgermeister und ein junger Bischof sind die einzigen integren Persönlichkeiten auf weiter Flur, das Übel hingegen ist allgegenwärtig. Jede Menge widerwärtige Fieslinge schicken die Autoren auf die düstere Bühne. Die Cosa Nostra hat langjährige Erfahrungen mit Druckmitteln aller Art. Wenn irgendwelche Gremien, Vergabeausschüsse oder Entscheidungsträger Schwierigkeiten haben, die Entwicklung in die vorgesehene Richtung zu lenken, dann hilft man gerne nach. Mal gibt es Spenden, mal geschehen Unfälle, mal stirbt jemand ganz unerwartet.
Oberster Strippenzieher ist ein faschistischer Krimineller, den man »Samurai« nennt. Der Sechzigjährige regiert über eine gut geschmierte und stabil verschraubte Maschinerie von großen und kleinen Rädchen auf allen Ebenen der Verwaltung und der Politik. Sein Handicap: Er sitzt gerade im Knast ein und hat dort noch gute fünfzehn Jahre vor sich.
Kein Wunder, dass schon ein Bewerber um seine Nachfolge mit den Hufen scharrt. Fabio Desideri, zwanzig Jahre jünger, gut durchtrainiert und vor allem ein freier Mann, dirigiert von seiner noblen Villa aus ein stetig wachsendes Imperium von Lokalen in den angesagtesten Vierteln Roms. Der vulgäre und vitale Typ weiß alle anderen das Fürchten zu lehren. Am liebsten lässt er Albaner für sich arbeiten, denn sie haben sich nicht nur als Drogendealer auf der Straße, sondern auch als Personenschützer und als ausführende Organe für heikle Aufträge mit tödlichem Ausgang bewährt.
Doch sicher kann sich in jenen Zirkeln niemand fühlen. Tatsächlich ist da schon einer angetreten, der Fabio quasi überholen will. Sebastiano Laurenti, den der »Samurai« zu seinem Statthalter erkoren hat, bildet sich ein, er könne Fabio ausschalten und sich selbst als Erbe seines Gönners proklamieren. So einen Werdegang hätte man dem Emporkömmling gar nicht zugetraut. Er entstammt einer gutbürgerlichen, tugendhaften Familie. Sein Vater führte eine solide Hoch- und Tiefbaufirma und ließ sich niemals auf Korruption ein. Sein Sohn ist aus anderem Holz geschnitzt: Er will um jeden Preis ganz nach oben.
Ein beliebtes und bewährtes Foltergerät der ehrenwerten Gesellschaft ist der Streik städtischer Betriebe. Mal stehen die öffentlichen Verkehrsmittel still, mal wird der Müll nicht abgeholt. »Rom soll im eigenen Dreck ersticken«, genau eine Woche lang, lautet Sebastianos Auftrag, stilsicher garniert mit fünfzigtausend Euro in einem Müllsack, an einen schmierigen Mittelsmann.
In diesem Netzwerk fiktiv benamter Akteure erscheinen die politischen Parteien – vor allem der »Partito Democratico« (PD, die Partei des Ministerpräsidenten Matteo Renzi) und die junge Protestbewegung »MoVimento 5 Stelle« (M5S, »Fünf-Sterne-Bewegung«) – ganz unverhüllt im Klartext. Das verschärft, jedenfalls für italienische Leser, die Brisanz des Thrillers als Spiegel realer Verhältnisse. Eine junge aufstrebende Politikerin des (Roman-) PD ist Chiara Visone, eiskalt, karrieresüchtig und ihrer Stärken und Waffen bewusst (nicht nur Sebastiano Laurenti verfällt ihnen). In ihr sehen viele eine Anspielung auf Maria Elena Boschi, dem (echten) PD zugehörige loyale Renzi-Unterstützerin und seit Februar 2014 Ministerin für Renzis geplante große Verfassungsreform.
Giancarlo de Cataldo und Carlo Bonini haben ein ebenso vielschichtiges wie spannendes, amüsantes wie deprimierendes Porträt der ewigen Stadt am Tiber gezeichnet. Trotz Chaos und Verfall strotzt sie vor Vitalität und Überlebenswillen, Initiative und Geschäftstüchtigkeit. Um sich in der öffentlichen Unordnung durchzuschlagen, helfen Improvisationstalent, Egoismus und Rücksichtslosigkeit, und wer besonders viel davon mitbringt, kann es mit Geschick, Geschenken und Gewalt bis an die Spitze schaffen.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2016 aufgenommen.