Morte in mare aperto e altre indagini del giovane Montalbano
von Andrea Camilleri
Fast schon wie der Alte
Der neueste »Montalbano« ist nach längerer Zeit wieder einmal eine Sammlung von Erzählungen. Jede der acht unterhaltsamen und vielfältigen Geschichten hätte das Zeug für einen umfangreicheren Roman – und schon gleich für eine Verfilmung. Die Fernsehserie »Il giovane Montalbano«, in Italien 2012 mit großem Zuspruch ausgestrahlt, soll ja, so gehen die Gerüchte, fortgeführt werden. Ihre ersten sechs Episoden basierten alle auf frühen Erzählungen (nicht etwa Romanen) Camilleris, die mit einer gewissen biografischen Vernetzung und dem bekannten Personal der Montalbano-Hauptserie (Fazio, Mimì, Catarella, dottor Pasquano, Adelina ...) angereichert wurden [› Übersicht und Rezensionen]. Hier kommt genug Futter für neue Folgen.
(Nachtrag im August 2015: Im September erscheint bereits die deutsche Ausgabe: »Der ehrliche Dieb« , übersetzt von Rita Seuß und Walter Kögler.)
Ehe man sich's versieht, werden die Kinder älter. Auch der »giovane Montalbano« ist kein Frischling mehr wie in der ersten TV-Staffel. Zwar führt er seine Ermittlungen immer noch gern mit unkonventionellen Mitteln, schert sich nur bedingt um Richtlinien und sieht gar nicht ein, warum er sein Temperament bremsen sollte. Aber sind das nicht genau die Wesensmerkmale, die ihn durch die nächsten Jahrzehnte definieren und zu unserem geschätzten Helden machen werden? Wir wissen das, er aber nicht. Soll er sich also ruhig ein wenig die Hörner abstoßen.
Eine widersprüchliche Persönlichkeit ist Salvo schon jetzt (in den Achtziger Jahren). Einerseits aufbrausend, respektlos, herrisch, andererseits verständnisvoll und nachsichtig, ja sogar nach innen gekehrt, auf die Respektierung seines Privatbereichs bedacht. Einerseits rebellisch gegen jede Bevormundung und überhaupt jede Hierarchie, andererseits nicht ganz uneitel in seiner frischen Position als Chef des Kommissariats, der keine Unsicherheit erkennen lassen will (obwohl er sich mancher Schwäche bewusst ist). Einerseits verfolgt er miese Gesellen ganz unnachgiebig, andererseits hat er keine Skrupel, einen Kriminellen ungeschoren davonkommen zu lassen oder gar mit einem zu kooperieren, wenn es der Gerechtigkeit dient, wie er sie definiert: weniger an Gesetz, Hierarchie oder Bürokratie als an Menschlichkeit orientiert. Erstaunlich ist immer wieder, wie nonchalant er taktiert, geradezu hinterhältige Strategien ausheckt, um Verbrechern das Handwerk zu legen.
In Salvos Beziehung zu seiner neuen Flamme Livia aus Genua (die er in »Ritorno alle origini«, deutscher Titel »San Calorio«, kennengelernt hat [› Rezension]) sehen wir wohl die offenkundigsten Veränderungen. Sie widmen einander viel Zeit, ihre Liebe ist frühlingsfrisch und nährt große Hoffnungen. Dass unzählige Missverständnisse, Gereiztheiten und Verpflichtungen sie zermürben werden, dass aus Heirat und Kindern niemals etwas werden wird, das wissen wir, die beiden aber glücklicherweise nicht. Die Dauer-Fernverlobte-in-spe hält Salvo schon jetzt für viel zu gesetzt. »Quando diventerai vecchio, ti comporterai peggio di un gatto abitudinario.« (»Schoßkätzchen«) Was im Kontext bloß ein neckischer Piekser ist, gibt dem Montalbano-Kenner Anlass zum Nachdenken über den »Alten«, der zwar seine eingefahrenen Marotten kultiviert (beim Essen, beim Schwimmen, beim Träumen ...) und doch bei jedem Fall wieder überraschende neue Wege geht. Die beiläufigen Anspielungen oder Projektionen erhöhen den Reiz dieses Bandes; unser Blick bekommt etwas Diagnostisches: Wir verfolgen gespannt bis amüsiert wie immer den Plot um Verbrechen und ihre Aufklärung, aber wir merken auf, wenn uns Symptome für die zukünftigen »Leiden« der Protagonisten ins Auge springen.
Auch das Land hat sich, wenn man auf den »giovane Montalbano« zurückblickt, gewandelt. Man bezahlt in Lire und muss dabei auch im Alltag mit gewaltigen Beträgen rechnen, ein Attentat auf den Papst Johannes Paul II. erschüttert die Menschen, die Affäre um die Vatikanbank Banco Ambrosiano und den Finanzjongleur Michele Sindona beherrscht die Schlagzeilen. Besser waren die alten Zeiten also nicht. Deshalb sind die Fälle, mit denen sich der commissario herumschlagen muss, prinzipiell immer die gleichen: Beziehungsangelegenheiten, Entführungen, Erpressung, Raub, Gewalttaten, Drogenhandel, Bauspekulation, Mädchenhandel, Prostitution – und dahinter stecken oft genug die Mafia-Clans Sinagra und Cuffaro.
Wer weiß schon, was Camilleri und/oder den Sellerio-Verlag zur Erschaffung dieses Erzählbandes veranlasst hat (angeblich ist er über zwei Jahre hin entstanden). Es mögen kommerzielle Erwägungen gewesen sein, um der Marke »Montalbano« ein Update angedeihen zu lassen oder Drehbücher für den TV-Serienableger bereitzustellen. Fest steht aber, dass das Konzept literarisch stimmig und reizvoll ist. Camilleri hat Salvo Montalbano über zwei Jahrzehnte gut gepflegt. Er ist zu einer nuancenreichen, widersprüchlichen und starken Persönlichkeit gereift; deutliche Narben zeugen von den Auseinandersetzungen, die seine dienstliche und private Biografie geprägt haben. Da lohnt sich die Rückschau: Wie hat das alles begonnen? Und Camilleri ist ein Schriftsteller, der auch sehr lange Fäden perfekt zusammenhalten kann.
Näheres zu den Kriminalfällen der acht Geschichten erfahren Sie unter den folgenden Links: