
Neapel sehen und ... töten
Abgeschoben hat man ihn. Im Strafprozess gegen einen Mafioso hatte der Angeklagte ihn als korrupten Informanten verpfiffen, und da war ispettore Giuseppe Lojacono (dessen Familienname auf dem »a« betont wird) im sizilianischen Agrigento nicht mehr zu halten, obwohl er sich nichts dergleichen hatte zu Schulden kommen lassen. Aber die Indizienlage reichte nicht aus, um die üble Nachrede abzuschmettern, und so wurde das bis dahin gefürchtete hohe Tier »aus reiner Zweckmäßigkeit« nach Neapel versetzt.
Die Behördenaktion hat nicht nur Lojaconos blendende Karriereaussichten, sondern auch seine Familie ruiniert. Frau und Tochter sind nach Palermo gezogen, wo es ihnen sehr schwerfällt, sich ein neues Leben einzurichten.
Zehn Monate hockt der ispettore nun schon in der Schreibstube einer unbeliebten Polizeistation in Neapel und schlägt seine Zeit mit Pokern am Computer tot. Seine Kollegen lassen ihn nicht zum Zuge kommen, und niemand interessiert sich für seine unmaßgeblichen Meinungen.
Als Lojacono mal wieder eine Nachtschicht absitzt, bestellt ihn ein anonymer Anruf zu einem Tatort. Im Hinterhof eines alten Mietshauses findet er einen sechzehnjährigen Kleindealer, erledigt durch Kopfschuss. Schlimmer noch als der Anblick des jungen Toten mutet den Polizisten der der gebrochenen Mutter an: der »stumme Schrei« ihres schmerzverzerrten Gesichtes, »ein Abbild des Wahnsinns«.
Die Mafia, das ist Lojacono klar, steckt nicht hinter dem Mord. Wenn die zuschlagen, dann entweder mit Aufsehen erregendem Brimborium, das alle in Angst und Schrecken versetzt, oder ganz im Stillen, ohne Spuren zu hinterlassen. Aber Lojacono fragt ja niemand. Commissario Di Vincenzo vom Kommissariat San Gaetano übernimmt den Fall und lässt als erstes den ispettore abblitzen. Er hat schon genug Ärger mit der stellvertretenden Staatsanwältin, die man ihm vor die Nase gesetzt hat: Mit dottoressa Laura Piras, einer Sardin aus Cagliari, erst dreißig und bereits »eine harte Nuss«, ist nicht gut Kirschen essen.
Ehe auch nur ansatzweise erkennbar wird, warum der Sechzehnjährige sterben musste, werden zwei weitere junge Menschen auf gleiche Weise aus unmittelbarer Nähe getötet. Merkwürdigerweise scheint der Täter die Spuren, die er am Tatort hinterlässt, nicht zu fürchten – im Gegenteil: Außer den Patronenhülsen finden die Polizisten jedes Mal nass geweinte Taschentücher. Die dicken Krokodilstränen verschaffen dem dreist-grausamen Serienmörder schnell seinen Beinamen »Krokodil«.
Wir Leser lernen den Mann gleich im ersten Satz kennen: »Der Tod kommt um acht Uhr vierzehn auf Gleis drei an, mit sieben Minuten Verspätung.« Er hat seine Reise bis ins kleinste Detail vorausgeplant und im Internet dafür recherchiert. Ein einfaches Unternehmen ist das alles nicht für ihn, denn hinter ihm liegen Jahre der Verzweiflung; nur Erinnerung und Sehnsucht nach einem Wiedersehen haben ihn durchhalten lassen. In eindringlichen Liebesbriefen lesen wir von seinen Empfindungen – »Dein Lächeln, Deine Schönheit, Dein blondes Haar. Die Wärme Deiner Hände auf meinem Gesicht« – und seiner Zuversicht, »Dich noch einmal an mein Herz drücken [zu] können«.
Die Ermittler tappen derweil freilich im Dunklen. Nach dem dritten Mord und ausbleibenden Erkenntnissen ist dottoressa Laura Piras ganz Ohr für Lojaconos Ansatz. Di Vincenzos Widerstand ignorierend, holt sie den ispettore in ihr Team, und langsam kommt Bewegung in die Aufklärungsarbeit. Alle drei Opfer waren Einzelkinder und der einzige Lebenssinn ihrer alleinerziehenden Mütter bzw. des Vaters. Wollte das »Krokodil« womöglich die Erwachsenen strafen? Doch wofür, und was verbindet sie? Sie stammen aus ganz unterschiedlichen sozialen Milieus.
Mit »Il Metodo del Coccodrillo« , dem ersten Fall einer Serie um den ispettore Giuseppe Lojacono, hat der italienische Autor Maurizio de Giovanni einen durch und durch ungewöhnlichen und überzeugenden Krimi vorgelegt. Verdientermaßen wurde er 2012 mit dem »Premio Scerbanenco«, dem wichtigsten Preis für italienische Kriminalliteratur, ausgezeichnet. Susanne Van Volxem hat das Buch ins Deutsche übersetzt.
Die Handlung ist stringent und logisch stimmig angelegt, die Spannung hält bis zur allerletzten Seite an, schließt dann noch mit einem Knüller ab und benötigt für all das keinen Blutfaktor. Die Personen sind interessante Menschen, alle mit einem besonderen Charme. Protagonist Lojacono und Staatsanwältin Piras versuchen ihre Empfindsamkeit und ihre Vorgeschichte hinter einer harten Schale zu schützen. Selbst dem tötenden Monster kommt man emotional näher, als man möchte. Auch hinter dem »Krokodil« steckt ein gebrochener, schuldbeladener Mensch, dessen Tatmotiv keinen Leser kalt lassen wird.
All dies ist in die quirlige Atmosphäre Neapels eingebettet, das manche einen Moloch, andere Italiens aufregendste oder gar schönste Stadt nennen. Dicht gedrängt leben die vielen Menschen hier beieinander, und sie haben seit langem gelernt, mit Mühsal und Machtlosigkeit, mit Armut und Angst zu leben. Wenn etwas Schreckliches geschieht, schauen sie lieber weg, um nichts sehen zu müssen, verkriechen sich, schweigen beharrlich. Daher können kleine und große Verbrecher ihre späteren Tatorte und Opfer leicht auskundschaften, ohne registriert zu werden, und mafiöse Strukturen konnten sich über viele Jahrzehnte hin verfestigen.
De Giovannis Erzählstil ist eingängig und nicht selten von leichter Heiterkeit durchweht. Richtig spritzig sind die Dialoge zwischen Lojacono und seinem Partner, dem Polizeimeister Luciano Giuffrè, der einst Chauffeur eines Ministers war und nun wie der ispettore aufs Revier versetzt wurde, um Strafanzeigen aufzunehmen und Papierkram zu erledigen: »zwei Gefangene auf Alcatraz«.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2014 aufgenommen.
Nachtrag im Mai 2021: Diesem Kriminalroman folgten inzwischen viele weitere, die alle in Neapel spielen und die Reihe »I Bastardi di Pizzofalcone« bilden. »Das Krokodil« erzählt die Vorgeschichte dazu. Die »Bastardi«-Krimis waren derart erfolgreich, dass sie auch für das Fernsehen verfilmt wurden. Was es mit ihr und dem deftigen Namen auf sich hat, erfahren Sie mit vielen Hintergrundinformationen in meiner Übersicht der Kriminalromane und Fernsehfilme von Maurizio de Giovanni.