Rezension zu »Mille giorni che non vieni« von Andrej Longo

Mille giorni che non vieni

von


Seit sechs Jahren sitzt Antonio Caruso wegen Mordes im Gefängnis, da wird er überraschend entlassen. Jetzt hat er nur drei Wünsche: die Liebe seiner Frau wiedergewinnen, sein Töchterchen kennenlernen und mit ihnen ein neues Leben beginnen.
Belletristik · Sellerio · · 312 S. · ISBN 9788838944116
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Neapel und Golf

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Ein verlorener Sohn

Rezension vom 19.11.2023 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Die dramatischen Ereignisse und sehr persön­lichen Entwick­lungen in diesem Roman erzählt uns ein verur­teilter Mörder von etwa sieben­und­zwanzig Jahren aus Neapel. Von den dreizehn Jahren seiner Haft­strafe hat er sechs verbüßt, als er über­raschend vor­zeitig ent­lassen wird – warum, das weiß er selber nicht, und was dahinter­steckt, wird ihm und uns im Lauf der Handlung enthüllt.

Antonio Caruso, der Ich-Erzähler, ist ein bemerkens­werter Charakter. Einer­seits ist er ein sympa­thischer Kerl, klug, nach­denklich, verständ­nisvoll, sensibel, empa­thisch, gott­gläubig, geschickt im Umgang mit Worten und Menschen. Sehr anschau­lich und anrüh­rend schildert er, wie die Abläufe, Regeln und Hierar­chien im Gefäng­nis das Leben der In­sassen verändern, zum Beispiel das ewige Warten, bis man die Erlaub­nis für den Toi­letten­gang, das Duschen, einen Lehrgang erhält, während sich die all­nächt­lichen Alp­träume aus der Ver­gangen­heit von alleine ein­stellen. Einige Mitge­fangene werden Vertraute, und selbst der eine oder andere Aufseher schätzt seine Verläss­lichkeit. In Padre Vincenzo, dem Gefängnis­geist­lichen, dessen packende Versionen bibli­scher Texte ihn tief prägen, findet er einen wahren Freund, an den er sich auch in seiner wieder­gewon­nenen Freiheit wenden wird. Die stärkste Kraft, die Antonio in ein neues, geord­netes Leben treibt, ist die Liebe zu seiner taub­stummen Frau Maria Luce und seinem Töchter­chen Rache­lina, das kurz nach seiner Verhaf­tung geboren wurde. Die eigene Selbst­reflexion, die Fähigkeit, seine Lage zu relati­vieren, und Padre Vincenzos Impulse führen Antonio nach seiner Entlas­sung auf einen Pfad, der uns Zuver­sicht gibt, dass er es schafft, sich aus den vielen Miseren und Schick­sals­schlägen, die er ver­kraf­ten musste, zu einer besseren Zukunft durch­zu­kämp­fen und seine Träume zu reali­sieren.

Andererseits gefährden dunkle Züge in seinem Wesen seine Erfolgs­chancen. Dass er naiv, verführ­bar und gewalt­tätig sein kann, trat in seiner Jugend deutlich genug zutage. Seit sie elf Jahre alt waren, hielten seine Kumpel »Polpetta«, »Tyson« und er zusammen wie Pech und Schwefel. Alle drei gingen einfachen Arbeiten nach, aber ihr jugend­liches Tempe­rament verlangte Abenteuer. Sie prügelten sich bei Fußball­spielen, ver­ticker­ten Drogen, schlugen sich als Klein­krimi­nelle durch. Mit dem Kauf von Pistolen fielen alle Schranken. »Tenevamo la rabbia in corpo«, »eravamo immortali. E ci mangia­vamo la vita a morsi, più in fretta che ci riusciva«. Der Preis, den sie bezahlen müssen, ist hoch: Tyson wird von Rivalen erschos­sen, Antonio muss ins Gefängnis.

Tatsächlich gelingt Antonios Neustart nach seiner Frei­lassung. Bei einer brenz­ligen Begeg­nung lässt er sich erstmals im Leben nicht dazu hinreißen, den Provo­kateur hem­mungs­los zusam­menzu­schlagen. Trotz Maria Luces verständ­licher Skepsis erwirbt er in kleinen Schritten wieder ein gewisses Vertrauen, ja Zuneigung bei ihr. Rachelina liebt ihn mit ihren fünf Jahren noch unvor­einge­nom­men (»Sono mille giorni che non vieni«, sagt sie voller Bedauern, ohne Vorwurf), und um ihr ein guter Vater zu sein, reißt er sich ein Bein aus.

Trotz seiner Entschlossenheit und Vorsicht ist er nicht konse­quent genug und gerät in Zwick­mühlen. Um bei Maria Luce ein gutes Bild abzugeben und Rachelina aus einer Notlage zu helfen, ver­schul­det er sich. Auf der Suche nach Arbeit lässt er sich mit Leuten ein, die ihm selber von Anfang an suspekt erschie­nen. Schließ­lich ist er derartig in Unheil ver­wickelt, dass alles verloren scheint.

Damit verlagert sich der Schwerpunkt der schon bis dahin wen­dungs­reichen Erzäh­lung ein wenig, denn Antonio übernimmt einen Job als Fahrer eines Liefer­wagens, ohne genau zu durch­schauen, wofür er eigent­lich so gut bezahlt werden soll. Der weitere Verlauf ist für uns Leser in gewissem Rahmen vorher­sehbar. Die stabiler gewor­denen fami­liären Bezie­hun­gen können in den Hinter­grund rücken, während nächt­liche Fahrten, Nach­forschun­gen und schließ­lich Action in den Mittel­punkt rücken. Der Prota­gonist bekommt es dabei mit den hinläng­lich bekannten Themen­kreisen italieni­scher Krimi­nalität zu tun und ent­wickelt heldi­sche Quali­täten unter­schied­licher Art. Eine Nummer kleiner, dafür aber enger an der mit sich selbst und den widrigen Umständen ringenden Persön­lichkeit hätte den Charakter des Antonio Caruso stimmiger und konzen­trierter belassen.

Der Sprachstil der Erzählung wird durch Milieu und Thema bestimmt und ist weder hin­sicht­lich Satzbau noch Wort­schatz noch Grammatik anspruchs­voll. Mit einfachen Mitteln gestaltet der Autor aber einpräg­same, poeti­sche Bilder und Szenen. Ein­drucks­voll bei­spiels­weise Padre Vin­cenzos Predigt über die »fan­tasmi«, die die Gefan­genen quälen und bis in den Selbst­mord treiben.

Die Einsprengsel neapolitanischen (oder allgemein süd­italieni­schen) Dialekts mögen anfangs schwer verständ­lich sein, doch bald lernt man sie durch Kontext (»veloce, go go, jammun­cenne« für »veloce, andiamo!«) und Wieder­holung zu entzif­fern: Dopp­lungen (»e che pazienza che ci vuole«), die Verkür­zung der Eigen­namen bis zur letzten betonten Silbe (»Antò« für »Antonio«), die verän­derte Aus­sprache von Konso­nanten (»Marò« für »Madonna«, »chiagnere« für »piangere«), Ver­schleifun­gen mehrerer Wörter (»Co’ ‘st’addore dolce« für »Con questo odore dolce«) und der­gleichen.

Abgesehen vom beschriebenen Schwenk im letzten Drittel bietet der neueste Roman des in Italien sehr geschätz­ten Andrej Longo (1959 auf Ischia geboren) ein be­reichern­des Lese­erlebnis.


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