Mille giorni che non vieni
von Andrej Longo
Seit sechs Jahren sitzt Antonio Caruso wegen Mordes im Gefängnis, da wird er überraschend entlassen. Jetzt hat er nur drei Wünsche: die Liebe seiner Frau wiedergewinnen, sein Töchterchen kennenlernen und mit ihnen ein neues Leben beginnen.
Ein verlorener Sohn
Die dramatischen Ereignisse und sehr persönlichen Entwicklungen in diesem Roman erzählt uns ein verurteilter Mörder von etwa siebenundzwanzig Jahren aus Neapel. Von den dreizehn Jahren seiner Haftstrafe hat er sechs verbüßt, als er überraschend vorzeitig entlassen wird – warum, das weiß er selber nicht, und was dahintersteckt, wird ihm und uns im Lauf der Handlung enthüllt.
Antonio Caruso, der Ich-Erzähler, ist ein bemerkenswerter Charakter. Einerseits ist er ein sympathischer Kerl, klug, nachdenklich, verständnisvoll, sensibel, empathisch, gottgläubig, geschickt im Umgang mit Worten und Menschen. Sehr anschaulich und anrührend schildert er, wie die Abläufe, Regeln und Hierarchien im Gefängnis das Leben der Insassen verändern, zum Beispiel das ewige Warten, bis man die Erlaubnis für den Toilettengang, das Duschen, einen Lehrgang erhält, während sich die allnächtlichen Alpträume aus der Vergangenheit von alleine einstellen. Einige Mitgefangene werden Vertraute, und selbst der eine oder andere Aufseher schätzt seine Verlässlichkeit. In Padre Vincenzo, dem Gefängnisgeistlichen, dessen packende Versionen biblischer Texte ihn tief prägen, findet er einen wahren Freund, an den er sich auch in seiner wiedergewonnenen Freiheit wenden wird. Die stärkste Kraft, die Antonio in ein neues, geordnetes Leben treibt, ist die Liebe zu seiner taubstummen Frau Maria Luce und seinem Töchterchen Rachelina, das kurz nach seiner Verhaftung geboren wurde. Die eigene Selbstreflexion, die Fähigkeit, seine Lage zu relativieren, und Padre Vincenzos Impulse führen Antonio nach seiner Entlassung auf einen Pfad, der uns Zuversicht gibt, dass er es schafft, sich aus den vielen Miseren und Schicksalsschlägen, die er verkraften musste, zu einer besseren Zukunft durchzukämpfen und seine Träume zu realisieren.
Andererseits gefährden dunkle Züge in seinem Wesen seine Erfolgschancen. Dass er naiv, verführbar und gewalttätig sein kann, trat in seiner Jugend deutlich genug zutage. Seit sie elf Jahre alt waren, hielten seine Kumpel »Polpetta«, »Tyson« und er zusammen wie Pech und Schwefel. Alle drei gingen einfachen Arbeiten nach, aber ihr jugendliches Temperament verlangte Abenteuer. Sie prügelten sich bei Fußballspielen, vertickerten Drogen, schlugen sich als Kleinkriminelle durch. Mit dem Kauf von Pistolen fielen alle Schranken. »Tenevamo la rabbia in corpo«, »eravamo immortali. E ci mangiavamo la vita a morsi, più in fretta che ci riusciva«. Der Preis, den sie bezahlen müssen, ist hoch: Tyson wird von Rivalen erschossen, Antonio muss ins Gefängnis.
Tatsächlich gelingt Antonios Neustart nach seiner Freilassung. Bei einer brenzligen Begegnung lässt er sich erstmals im Leben nicht dazu hinreißen, den Provokateur hemmungslos zusammenzuschlagen. Trotz Maria Luces verständlicher Skepsis erwirbt er in kleinen Schritten wieder ein gewisses Vertrauen, ja Zuneigung bei ihr. Rachelina liebt ihn mit ihren fünf Jahren noch unvoreingenommen (»Sono mille giorni che non vieni«, sagt sie voller Bedauern, ohne Vorwurf), und um ihr ein guter Vater zu sein, reißt er sich ein Bein aus.
Trotz seiner Entschlossenheit und Vorsicht ist er nicht konsequent genug und gerät in Zwickmühlen. Um bei Maria Luce ein gutes Bild abzugeben und Rachelina aus einer Notlage zu helfen, verschuldet er sich. Auf der Suche nach Arbeit lässt er sich mit Leuten ein, die ihm selber von Anfang an suspekt erschienen. Schließlich ist er derartig in Unheil verwickelt, dass alles verloren scheint.
Damit verlagert sich der Schwerpunkt der schon bis dahin wendungsreichen Erzählung ein wenig, denn Antonio übernimmt einen Job als Fahrer eines Lieferwagens, ohne genau zu durchschauen, wofür er eigentlich so gut bezahlt werden soll. Der weitere Verlauf ist für uns Leser in gewissem Rahmen vorhersehbar. Die stabiler gewordenen familiären Beziehungen können in den Hintergrund rücken, während nächtliche Fahrten, Nachforschungen und schließlich Action in den Mittelpunkt rücken. Der Protagonist bekommt es dabei mit den hinlänglich bekannten Themenkreisen italienischer Kriminalität zu tun und entwickelt heldische Qualitäten unterschiedlicher Art. Eine Nummer kleiner, dafür aber enger an der mit sich selbst und den widrigen Umständen ringenden Persönlichkeit hätte den Charakter des Antonio Caruso stimmiger und konzentrierter belassen.
Der Sprachstil der Erzählung wird durch Milieu und Thema bestimmt und ist weder hinsichtlich Satzbau noch Wortschatz noch Grammatik anspruchsvoll. Mit einfachen Mitteln gestaltet der Autor aber einprägsame, poetische Bilder und Szenen. Eindrucksvoll beispielsweise Padre Vincenzos Predigt über die »fantasmi«, die die Gefangenen quälen und bis in den Selbstmord treiben.
Die Einsprengsel neapolitanischen (oder allgemein süditalienischen) Dialekts mögen anfangs schwer verständlich sein, doch bald lernt man sie durch Kontext (»veloce, go go, jammuncenne« für »veloce, andiamo!«) und Wiederholung zu entziffern: Dopplungen (»e che pazienza che ci vuole«), die Verkürzung der Eigennamen bis zur letzten betonten Silbe (»Antò« für »Antonio«), die veränderte Aussprache von Konsonanten (»Marò« für »Madonna«, »chiagnere« für »piangere«), Verschleifungen mehrerer Wörter (»Co’ ‘st’addore dolce« für »Con questo odore dolce«) und dergleichen.
Abgesehen vom beschriebenen Schwenk im letzten Drittel bietet der neueste Roman des in Italien sehr geschätzten Andrej Longo (1959 auf Ischia geboren) ein bereicherndes Leseerlebnis.