Der Sturz des Professors
Tullio Iovine del Castello denkt an Sisinella und lächelt, bis er auf dem Pflaster aufschlägt. In der Dunkelheit einer unbarmherzig heißen Nacht stürzt der Lehrstuhlinhaber für Gynäkologie an der Königlichen Universität von Neapel aus dem Fenster seines Büros im vierten Stock des Poliklinikums.
Hat sich der anerkannte Spezialist auf dem Gipfel seiner Karriere selbst getötet, oder wurde er hinabgestoßen? Sein Fall beschäftigt am nächsten Morgen die ganze Stadt, denn er hatte auch den Frauen aus den ärmsten Vierteln geholfen. Er hinterlässt eine Frau und einen achtjährigen Sohn. Sisinella aber gehörte sein Herz; mit ihr hatte er sich insgeheim ein Liebesnest eingerichtet.
Nach dem grandios gestalteten Fenstersturz – einem Meisterstück poetischer Zeitdehnung – nimmt ein klassischer Whodunit-Plot seinen Lauf. Die Ermittler befragen nach und nach alle, die mit dem Verstorbenen zu tun hatten, und sammeln Informationen, bis sie am Ende verstehen, wie sich der tödliche Vorgang abgespielt hat und welche Umstände dahin führten. Die Indizien sind übersichtlich, und wer gut mitdenkt, kann sich irgendwann selbst zusammenreimen, was geschah. Also ein einfacher Krimi? Vielleicht, aber das ist nur die Rückseite der Medaille. Die Aufklärung des Kriminalfalles, in deren Zusammenhang später ein weiterer Tod zu beklagen ist und die durchaus komplexe Hintergründe zu Tage fördert, steht für den Autor nicht im Mittelpunkt. Wichtiger sind ihm die eindringliche Atmosphäre (Neapel im Juli 1932, dem heißesten Sommer des Jahrhunderts) sowie die sorgfältige, differenzierte Gestaltung seiner Protagonisten und die Entwicklung des Geflechts ihrer Beziehungen. Die haben vor allem mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen von Liebe zu tun und spielen mit der Phrase »In der Tiefe deines Herzens«, die dem italienischen Original den Titel gibt (»In fondo al tuo cuore« ; Judith Schwaab hat die Übersetzung ins Deutsche geschaffen).
Die komplexeste Figur ist der commissario Luigi Alfredo Ricciardi. Er stammt aus adliger Familie (Baron von Malomonte) und genoss eine wohlbehütete Kindheit, die jedoch von einem traumatischen Erlebnis überschattet war. Seither verfügt er über eine merkwürdige Gabe, Segen und Fluch zugleich, die ihn fürchten lässt, er sei »verrückt. Ja, ebenso verrückt, wie es meine arme Mutter war. Stellen Sie sich vor, ich bilde mir ein, Tote zu sehen, die mir ihre allerletzten Gedanken erzählen.« Unter diesem seelischen Damoklesschwert hat sich der Mann zu einem melancholischen Einzelgänger entwickelt (»der Fürst der Finsternis, unser Ricciardi«), der, gequält von Selbstzweifeln, davor zurückschreckt, eine eigene Familie zu gründen.
Interessierte Frauen gäbe es schon, die dem gut aussehenden Junggesellen mit widerspenstigem Schopf, kultivierten Manieren und aristokratisch-ruhigem Wesen zur Seite stehen möchten. Dicht auf seinen Fersen ist zurzeit Lucia, die lustige Witwe des gefeierten Baritons Arnaldo Vezzi, für den sie ihre eigene künstlerische Laufbahn aufgegeben hatte. Zwei Jahre Trauer um ihn zu tragen fällt ihr gar nicht ein. Sie ist aus Rom nach Neapel gezogen, führt hier ein mondänes Haus und erfreut sich des Aufsehens, das sie bei offiziellen Anlässen mit Ricciardi an ihrer Seite erregt. Jetzt ist sie vollauf damit beschäftigt, den rauschenden Maskenball vorzubereiten, mit dem sie am 16. Juli, dem Festtag der Madonna del Carmine (»la Signora Bruna – die braune Jungfrau«), ihrem Ruf als Königin der neapolitanischen Society die Krone aufsetzen wird. Als Knüller wird sie die prominenten Gäste aus den höchsten Kreisen des ganzen Landes mit einem Liedvortrag überraschen: Als Initialzündung für ihr Comeback als Sängerin ist die Uraufführung eines leidenschaftlichen Opus der Star-Komponisten der Stadt gerade gut genug. Ricciardi muss dabei sein, komme was wolle – nur ihm will sie singend in die Augen schauen.
Der commissario will sich freilich nicht festlegen lassen. Die Ereignisse rund um den Fall Iovine spitzen sich zu, je näher das Fest rückt, und selbstverständlich würde er der Pflicht immer den Vorrang vor dem Privaten einräumen. Er spürt auch, dass Zuneigung und Ansprüche der Dame ihn zu sehr einzuengen drohen, ohne ihn wirklich zu erfüllen. Vor allem aber ist er verliebt in Enrica, die zurückhaltende Tochter des Hutmachers, die in der Wohnung gegenüber der seinen wohnt. Wirklich kennen gelernt haben sich die beiden noch nicht, aber ihre Emotionen sind tief und ernsthaft. Nur haben sie sie einander noch nicht eröffnet (woraus ein umfangreicher, eigenständiger Handlungsstrang abzweigt, der das Potenzial für eine Fortsetzung birgt).
Die wichtigste Frau in Ricciardis Leben ist seine Amme Rosa. Sie hat ihn großgezogen wie eine Mutter und führt ihm jetzt den Haushalt in einer aufopfernd-fürsorglichen Weise, dass er sich weder um die Verwaltung seiner ererbten Güter noch um irgendwelche anderen Belange des Alltags zu kümmern braucht. Doch sie ist alt geworden. Weil sie ihr Ende nahen sieht und weiß, dass der signorino, der junge Herr, ohne sie verloren wäre, hat sie vor kurzem ihre älteste Nichte in die Stadt und ins Haus geholt, um sie nach gründlicher Prüfung ihrer Eignung als Nachfolgerin aufzubauen. Während sie mit der derben, zähen, pflichteifrigen und treuen Nelide eine gute Wahl getroffen hat, hat sie die ihr verbleibende Kraft und Zeit überschätzt. Dass sie jetzt bewusstlos im Hospital liegt, ist einer der Kreise von Ricciardis privatem Inferno: Er fürchtet den Verlust von Rosas bedingungsloser Liebe, und er spürt seine Macht- und Hilflosigkeit.
An Ricciardis Seite arbeitet der ihm treu ergebene brigadiere Raffaele Maione. Der Autor widmet diesem Kind des Volkes die gleiche Aufmerksamkeit wie seinem Vorgesetzten und gestaltet sein Wesen und seine Nöte ebenso sorgfältig. Maione führt die Recherchen plumper, aber volksnäher, und er nimmt kein Blatt vor den Mund. Leider quälen ihn private Sorgen. Das spärliche Gehalt reicht kaum aus, seiner hübschen blonden Frau und den fünf Kindern ein Auskommen zu sichern, und nun gibt es auch noch Anzeichen, dass der bislang glückliche Familienvater um seine Ehe fürchten muss. (Auch hieraus entsteht ein eigenständiger Handlungsstrang.)
Im Verlauf von über 450 Seiten nimmt eine Fülle weiterer Figuren mehrdimensionale Gestalt an. Tullio, seine Frau und sein Rivale erweisen sich ebenso als lebensnahe, differenzierte Charaktere wie seine Geliebte Sisinella, die aus den Tiefen der Armut durch Abgründe der Prostitution zur Geliebten eines reichen alten Mannes aufgestiegen ist und nun die einmalige Chance vor Augen hat, ein gutbürgerliches Leben zu sichern.
Ihre Recherchen führen die Polizisten in alle Gesellschaftsschichten der Stadt: Wir treffen ambitionierte Ärzte, faschistische Politiker, den Transvestiten Bambinella (ein femminiello, eine Art drag queen), einen begnadeten Goldschmiedemeister, einen jungen kriminellen Aufsteiger, der, zu allem entschlossen, sich nimmt, was er braucht, und viele einfache Bewohner der palazzi (Wohnblocks) und bassi (ebenerdige kleine Wohnungen), deren Klatsch und Tratsch sämtliche Neuigkeiten, geheime Polizeiaktivitäten inklusive, in Windeseile durch sämtliche Viertel trägt und Maione schier zur Verzweiflung treibt.
Auch der Stadt Neapel selbst mit ihren Schätzen und ihrem Elend, dem geschäftigen Getriebe in den Straßen und palazzi, den hektischen Vorbereitungen für das Fest der Madonna del Carmine verleiht de Giovanni Leben. Nur das politische Klima des Faschismus (der ja in Italien schon 1922 das Regiment übernahm) bleibt vergleichsweise farblos.
De Giovannis literarischer Kriminalroman ist einfach schön zu lesen. Er ist erfüllt von prallem Leben. Die Perspektiven wechseln von Kapitel zu Kapitel, immer wieder auch der Stil: Es gibt innere Monologe, die wichtige Anhaltspunkte für den Fall und den Seelenzustand der Personen bereitstellen, auch wenn nicht auf Anhieb klar ist, durch wessen Kopf sie strömen. ästhetische Höhepunkte sind de Giovannis stilistische ›Pirouetten‹, deren erste Tullios Todessturz schildert: Im Mittelpunkt steht eine Formel von zentraler Bedeutung (»er stürzt ...«; »die Hitze, die wahre Hitze«; »du hast es mir geschworen«; »in der Tiefe deines Herzens«), die sich, mehrfach wiederholt, durch das betreffende Kurzkapitel zieht wie die Achse einer Wendeltreppe. Die Erzählung schraubt sich höher und höher, der Erzähler enthüllt Ebene um Ebene das Geschehene, die Formel ist die Leitschiene, bis am Ende offenliegt, was aufgedeckt werden muss. Dabei kann ein etwas pathetischer Ton entstehen. Das fantastischste Kapitel ist das, welches die infernalische Hitze in all ihren Ausprägungen und Auswirkungen erstehen lässt – man liest atemlos.
»In fondo al tuo cuore« ist der siebte Teil einer thematisch untergliederten Serie um den commissario aus den Dreißiger Jahren. Den Anfang machten vier Krimis über die Jahreszeiten (»La condanna del sangue. La primavera del commissario Ricciardi« | »Der Frühling des Commissario Ricciardi« , »Il posto di ognuno. L'estate ...« | »Der Sommer des Commissario Ricciardi« , »Il giorno dei morti. L'autunno ...« | (noch nicht auf Deutsch erschienen), »Il senso del dolore. L'inverno …« | »Der Winter des Commissario Ricciardi« ), dann folgte eine Trilogie über neapolitanische Feste (»Per mano mia. Il Natale del commissario Ricciardi« | »Die Gabe des Commissario Ricciardi« , »Vipera. Nessuna resurrezione per il commissario Ricciardi« | »Die Versuchung des Commissario Ricciardi« über Ostern und nun »In fondo al tuo cuore | Die Klagen der Toten« über la Madonna del Carmine). Was wird Maurizio de Giovanni wohl als nächstes Leitthema einfallen?