Rezension zu »Se vuoi vivere felice« von Fortunato Cerlino

Se vuoi vivere felice

von


Im Camorra-Städtchen Pianura bei Neapel bedeutet Glück, Arbeit zu haben und zu behalten, um Armut und Ödnis nicht ganz so chancenlos ausgeliefert zu bleiben wie viele Nachbarn. Fortunato (»der Glückliche«) Cerlino erzählt mit leichter Feder amüsante, traurige und nachdenklich stimmende Episoden aus der Realität seiner Kindheit in den Achtzigerjahren.
Belletristik · Einaudi · · 265 S. · ISBN 9788806237752
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Neapel und Golf

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Was heißt hier Glück?

Rezension vom 06.06.2018 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Fortunato hat Glück gehabt. Er ist raus aus Neapel. Mit siebzehn hat er sich abgesetzt und sich in der Ferne einen Namen als Schau­spieler erarbeitet. Der inter­natio­nale Durchbruch kam mit der Serie »Gomorrha«, wo er den Mafia-Boss Don Pietro Savastano verkörpert (seit 2014). Drehort war das Städtchen Scampia, eine Camorra-Hochburg im Norden Neapels. Nur ein paar Kilometer westlich wurde Fortunato Cerlino 1971 geboren, in Pianura, dem »Wilden Westen« von Neapel.

Scampia und Pianura sind öde Wohnblock-Peripherie, in den Sechziger­jahren als Behausun­gen für Industrie­arbeiter­fami­lien aus dem Boden gestampft. Das Ländliche wurde verdrängt, Urbanität kam nie zustande. Die Arbeits­plätze sind längst weg, und mit ihnen die Perspek­tiven. Generatio­nen junger Leute wachsen auf der Straße auf, wo ihnen nicht viel mehr bleibt, als sich durch Imponier­gehabe und Status­symbole, mit Klein­krimina­lität ergattert, einen fragilen Selbstwert aufzu­bauen. Die Strippen ziehen die camorristi. Welche Ehre, wenn man mit sechzehn eingeladen wird, ob man nicht ein paar kleine Jobs erledi­gen möchte. Als Lohn gibt es Sonnen­brille, motorino, Geld für Klamotten und die Spiel­hölle, und die Aussicht auf eine Karriere.

Fortunato hat Glück gehabt, denn ihm hat eine zwar arme, aber intakte und ehrliche Familie den Rücken gestärkt und bessere Werte vorge­lebt. Seine Mutter Anna­maria stammt aus Bagnoli, also fast Napoli, was fast einem Adels­titel gleich­kommt. Je weiter weg von diesem Nabel der Welt einer geboren wurde, so die Volksmei­nung, desto unkulti­vierter ist er. Schon sein Dialekt markiert so einen als »cafone«. Das trifft (um 1960) auch Salva­tore Cerlino, der aus Monte­ruscello nahe Pozzuoli, also vom Lande kommt und um Anna­marì wirbt. Eine schlechte Wahl ist er nicht, schon wegen seines Groß­vaters, der beim Rasieren Opern­arien schmetterte und ihm ein Feld vererbte, für das man einmal dank­bar sein würde.

Annamarì und Salvatò, stolzer Kranführer bei einer großen Baufirma, beziehen mit Oma Matilde eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Pianura, bekommen vier Jungs und kommen einiger­maßen über die Runden. Die sieben Personen schlafen auf einer (1) Schlafcouch und in einem (1) Doppelbett. An allen Ecken und Enden muss gespart werden. Nur die Lokal­sender »Radio Duemila« und »Canale 21« sorgen im Haus für Unter­haltung, Kultur und Klatsch – die »RAI« darf nicht ins Haus, kostet sie doch Gebühren und ist im Übrigen aus Italia, sozu­sagen aus einer anderen Welt. Denn »qui parlano quasi tutti in dialetto, e quando incontrano qualcuno che si rivolge a loro in italiano s’insospet­tiscono«.

Dementsprechend sind etwa zehn Prozent des Textes in neapolitanischem Dialekt formuliert, und um die zu genießen, sollte man im Italie­nischen sattelfest und flexibel sein. Wenn man sich beim Lesen auf den Klang einlässt, hat man nach ein paar Seiten die wichtigsten Grund­regeln der Norm­abweichun­gen durchschaut und kann unbe­schwert zuhören.

Andererseits darf Gaetano, Junge aus bürgerlichem Hause, nur mit Kindern spielen, die ordent­liches Italie­nisch sprechen. Fortunato ist einer der Auser­wählten. Wenn er sich (nach den Hausauf­gaben) auf den Weg zu ihm macht, ermahnt ihn Anna­marì sicher­heits­halber noch einmal, bloß keine Spiel­sachen zu klauen.

Die Lage verschlechtert sich dramatisch, als Salvató seine Arbeit verliert und oben­drein das fünfte Kind unter­wegs ist. Fortunato muss jetzt jeden Nach­mittag mit einem Karren durch die Straßen laufen und Gemüse verkaufen, das der Vater frisch vom Feld in Monte­ruscello holt. Die neue Ver­antwor­tung, der Geldstrom und seine Verlockun­gen verändern den Jungen.

Fortunato Cerlino erzählt diese entscheidenden zwei oder drei Jahre, in denen seine Kindheit zu Ende geht, auf wunder­bare Weise. Inmitten von Not, Tristesse, Verfall und Scheitern hat der Zehn­jährige eine erstaunliche Wider­stands­kraft. Obwohl er es wegen seines Überge­wichts und seiner Eigen­willig­keit nicht einfach hat, helfen ihm Wille, Neugier, Gedanken­schärfe, Tapfer­keit und eine blühende Fantasie, einen eigenen Weg zu gehen. In seinen Träumen ist er Fußball­profi, Drachen­töter, Schlager­sänger. Er will weit weg, Schrift­steller werden. Oder Schau­spieler. Oder Astronaut. In der Familie nennt man ihn halb bewun­dernd, halb genervt »‘o strologo«, den Alles­wisser.

Im Laufe der vielen Episoden aus dem Alltag, der Träume und fiktiven Gespräche mit einem Bruder oder der Madonna von Lourdes (der man in Pianura einen Nachbau ihrer Grotte nebst Kopie ihrer Statue errichtet hat) lernen wir eine Vielzahl repräsen­tativer Charaktere kennen – von den Familien­mitglie­dern aus vier Genera­tionen über Kinder und Jugend­liche aller Couleur, darunter Enzo »’o Lión« und Tonino »Naso ‘e cane«, der Sohn des camorrista »’o Bulldog«, über »Spaider­màn«, den Einbrecher, der beim Balkon­klettern zu Tode gestürzt ist, die frömmelnden Nachbarin­nen, den Herrn Pastor bis zur gerad­linigen Grund­schulleh­rerin, die Intelli­genz und Talent ihres Schülers erkennt und nach Kräften fördert – eine kleine Sozial­analyse einer typischen Vorstadt von Neapel.

Ton und Atmosphäre wechseln zwischen Ernst, Fantastik, Mitgefühl, köstlichem Witz und feiner Ironie. Etwa wenn die gesamte Familie alle paar Wochen im Fiat 850 zum Einkaufen in den riesigen Euromer­cato zieht: Alle tun ihr Bestes, um einen gutbürger­lichen Eindruck zu machen, und die Kinder geben sich als wahre angio­letti. Was sie dann zwischen den Regal­reihen veranstalten, verschlägt einem freilich den Atem. Ein Engel ist Furtunà wahrlich nicht, aber er hat Glück, dass er in entschei­denden Situationen das Richtige tut. Aus Intuition, weil er intelli­gent ist, weil er einen guten Kern hat, weil er kritisch ist? Jedenfalls entkommt er um Haares­breite dem deprimie­renden Einbahn-Schicksal vieler seiner Alters­genos­sen.

Im letzten Teil vermischen sich Melancholie und Nostalgie, Magie, Traum und Selbst­findung. »Se vuoi vivere felice devi vivere quaggiù« – stimmt das womöglich? Allein kehrt der Promi (»Savastà! Ce facimme nu selfie?«) aus Rom zurück nach Pianura, um sein kleines Selbst aufzu­spüren, das er mit all seinen Frustra­tionen zurück­gelas­sen hatte, um die Kladde wiederzu­finden, in der Furtunà seine Gedanken und Beobach­tungen notiert hatte, um wieder anzuknüpfen an seine Wurzeln.

»Il destino è una calamita«, schreibt Cerlino, und eine Redensart der Gegend sagt: »Chi è nato tondo nun può murí quadrato.« Ciruzzo, il figlio della zingara, Tonino »Naso ‘e cane« und sein großer Bruder Patrizio und viele andere können sich ihrem Schicksal offen­kundig nicht entziehen. Auch die Hände von Salvatò Cerlino sind noch braun vom Acker seiner Vorfahren, und auch Fortunato hat den Geruch frisch aufge­broche­ner Erde in der Nase. Aber er konnte selbst bestimmen, ob er bleibt oder nicht.

Dieser autobiografische Debütroman eines vielseitig talentierten Künstlers bietet dank seiner Warm­herzig­keit, Authen­tizität, köstlicher Dialoge und eines lebhaften, bildstar­ken Sprachstils ein beein­drucken­des Lese­erlebnis.


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