
Innenansichten – die Frau an seiner Seite
Wie kommt es nur, dass Margherita nicht glücklich ist? Ein jeder schätzt die elegante, attraktive Dame von 44 Jahren. Sie ist körperlich gesund; ihr Mann (46) ist ein angesehener Herzchirurg und ein guter Ehemann, ihre drei Söhne (18, 19, 20) sind junge Prinzen wie aus dem Bilderbuch: blond, sportlich, strebsam. »Un modello di famiglia normale.« Im großen Haus findet jeder sein Rückzugsgebiet, wenn er es wünscht. Lästige Arbeiten wie Bügeln übernimmt die tüchtige Clara. Die Hausherrin kann den lieben langen Tag tun und lassen, wozu sie Lust hat.
In Wirklichkeit fühlt sich Margherita müde, verloren und hilflos. Manchmal wacht sie auf, ohne zu wissen, ob es Nacht oder Tag ist. Dann steht sie auf, liest, läuft umher, führt Hund Tokyo spazieren … Nicht-Aktivitäten, wie zufällig über Tag und Nacht verteilt. Die Zeit verrinnt für sie ungleichmäßig, mal gedehnt, dann wieder überspringt sie erinnerungslos ganze Stunden. »La vita è una fatica, mi dà l’affanno.«
Woher kommt die Lethargie, die Beklemmung? »Si sente sempre in colpa … per non aver fatto il suo dovere«, worunter sie versteht, eine richtige Ehefrau und Mutter zu sein, die Mahlzeiten bereitet, da ist für ihre Mustermänner. Und sie hat Angst zu versagen. Eigentlich kocht sie gern; ständig stöbert sie in ihrer Kochbuchsammlung auf der Suche nach neuen Rezepten. Aber dann verpufft ihre Initiative, sie bereitet das Essen lustlos zu, vergisst Zutaten, schüttet alles weg.
Ihrem Mann könnte so etwas nicht passieren. Er hat sein Leben im Griff, ist konstruktiv, dezidiert, positiv, verständnisvoll. Ein Techniker im Beruf und in seinen Beziehungen. »Lo sa, i camerieri [del bar] hanno visto suo marito e i ragazzi alle otto di mattina, perfetti, lavati e rasati, svegli, allegri ed efficienti.«
Die Sorgen seiner Frau nimmt er ernst, doch sie sind ihm fremd. Seine Gespräche mit ihr sind wie Sprechstunden. Er hört gut zu, hat ein klares System von Ansichten und gute Argumente. Beide bleiben ruhig und sachlich, beide wissen ihre Worte präzise und differenziert zu wählen. Zu einem Streit lassen sie es nicht kommen, allenfalls zu ironischen Seitenhieben. Am Ende verlaufen die Unterhaltungen unbefriedigend für beide. Sie sieht ein, dass er Recht hat, was ihr aber nicht weiterhilft; er kann sie nicht wirklich verstehen und hat in seiner Hilflosigkeit resigniert: »Ti senti infelice … Che cosa ti manca? Se tu facessi delle richieste io magari potrei accontentarti. Ma tu sai solo dire che ti senti infelice e lasciarmi impotente di fronte a tutto questo dolore.«
Was ihm bleibt, ist, die Dinge nicht hochzuspielen und ein bisschen vorzubauen, dass alles gut geht mit Margherita. Um sie nicht zu wecken, auch weil sie oft vergisst, ihr Handy einzuschalten oder mitzunehmen, hinterlässt er freundliche Post-its, die knapp und sachlich das Tagesprogramm der agilen Männer zusammenfassen, soweit es sie tangiert – wer holt wen ab, kehrt wann zurück, muss wann wieder weg, spielt Tennis mit wem, soll wann bereitstehen, um zur Party bei dottor XY zu fahren …
Ihre Männer nehmen Margherita heiter zur Kenntnis, wenn sie da ist, aber wenn sie nicht da ist, schläft oder was auch immer, macht es keinen Unterschied für ihr Wohlbefinden oder ihr Programm.
Margherita weiß: Sie hat ihre Männer verloren. Sie leben in ihrer eigenen Welt, zu der sie keinen Zutritt hat. Ihre Söhne und ihr Mann sind ein Rudel (»branco«), das gemeinsam Tennis spielt, herumtollt, ausgeht, Medizinerthemen diskutiert. Wenn sie aber ins Zimmer tritt, verstummen die Gespräche, endet das Scherzen, haben auf einmal alle keinen Hunger, löst sich die Runde auf. Über ihre Söhne weiß Margherita nichts (Haben sie Freundinnen?), ihre Zimmer betritt sie nie.
Früher war das anders. Da waren sie Mutters Kinder. Jetzt sind sie »cloni del padre« geworden, und das empfindet sie als vertane Lebenschancen. Sie hätte sich »vite nuove« gewünscht, »da scoprire loro stessi«. Kein Wunder, dass weder »il marito« noch »i figli« noch ihr Wohnort Namen erhalten.
Auch bei Clara findet sie keinen Trost. Wie gerne würde sie deren kleines Töchterchen umsorgen, wenn sie es nur einmal mitbrächte. Doch Clara hält höflich Distanz zu ihrer Herrin, lässt weder Hilfe noch Vertraulichkeit, nicht einmal ein kleines Kosmetikgeschenk zu.
Margherita ist abgehängt, isoliert. Ihr Sozialleben ist das der »mia moglie«, wenn ihr Mann zum Abendessen oder zur Einführung des neuen Klinikdirektors eingeladen wird und er mit Charme und Esprit seine fragile soziale Position verteidigt.
Was andere von ihr halten, kann Margherita sich denken: »la moglie strana del professore … sul suo piedistallo … dall’aria perennemente stanca … che fatica a fare shopping e a dare ordini alla domestica tutto il giorno«. Selbst ihr Mann spricht ja manchmal von einer »banale insonnia«. Sie aber erkennt eher Anzeichen einer Depression bei sich und wünscht, einen Psychologen zu konsultieren – nicht etwa einen Kollegen ihres Mannes, wie der gleich vorschlägt. Zu dessen Entsetzen blättert sie in den Gelben Seiten und wählt den, dessen Name ihr am besten gefällt: »De Seta dott. Serafino«.
Eine gute Wahl. Er ist nur für sie da. Er hört zu, kann ihre Gedanken lesen, nimmt sie ernst, ermutigt sie, sie selbst zu sein, ihren Wünschen nachzugeben statt sie zu bekämpfen. Er nimmt ihr das Versprechen ab, keine Suizidgedanken auszuhecken. Er schenkt ihr Zuversicht und Tatkraft.
Bis hierher ist dies für mich inhaltlich und stilistisch ein Fünf-Sterne-Buch. Luisa Brancaccio erzählt keine große Geschichte, sondern protokolliert Margheritas Alltag streng aus deren Perspektive. Die belanglose äußere Handlung löst bei der Protagonistin Empfindungen und Überlegungen aus, die die erzählende Stimme minutiös und subtil ausbreitet. Was wir entdecken, indem wir so unvermittelt Margheritas Seelenleben verfolgen, sind die Nöte einer sensiblen, scharfsinnigen, aber verunsicherten Frau, die sich selbst verloren zu haben scheint, ohne dass es möglich ist, eine einfache Ursache oder einen Schuldigen festzumachen. Aus ihren Versuchen zu begreifen, wie es um sie selbst und ihr Umfeld steht und wie sie damit umgehen kann, erwächst gehörige Spannung der psychologischen Art.
Der Ton ist ganz leicht melancholisch, was Margheritas Unbehagen an ihrem Dasein und Zustand gemäß ist. Brancaccios Erzählweise ist hingegen äußerst sachlich – von Gefühlsduselei keine Spur. Eine ernsthafte, kluge, feinsinnige Begleitung durch die Tage, die vielen Frauen mittleren Alters aus dem Herzen sprechen wird und in dem sich viele zumindest teilweise wiedererkennen werden. Für Männer ein eye-opener in die weibliche Psyche.
Doch dann wendet sich das Blatt. Aus heiterem Himmel bricht eine menschliche Katastrophe über die Familie herein. »Questo momento spacca la vita di Margherita in due … Dopo quella notte Margherita smette di dormire.«
Das dramatische Ereignis drängt die soeben zu unerwarteter Entschluss- und Tatkraft erstarkte Margherita zu Aktionen, die nicht nur zum Fall schöner Fassaden, sondern zur Auflösung der Familie führen werden.
Trotz der unerhörten Begebenheiten (Thriller-tauglich!) bleibt Luisa Brancaccios Erzählweise wie zuvor auf das Innenleben ihrer Protagonistin konzentriert. Margherita fragt sich, ob sie – »una persona difficile« – mitverantwortlich sei an »angoscia … rabbia …violenza … solitudine … cose non dette … cose celate«.
Fragwürdig scheint mir allerdings, was sie da durch unbeirrtes Forschen als des Pudels Kern ans Tageslicht fördert. Denn das passt so gar nicht zu all dem, was vorher so einfühlsam, so differenziert, so überzeugend aufgebaut wurde. Eine derartige Entlarvung erwartet man in einem Psychothriller, aber in einem ernstzunehmenden Psychogramm verstört sie. Der Schluss wirkt aufgesetzt und überzogen.
Vier der sieben Kapitel erzählen recht aufwändige Nebenhandlungen, die parallel zu Margheritas Entwicklung verlaufen. Sie verfolgen Personen der Zentralgeschichte, teils nur für eine nächtliche Begegnungsepisode (dottor De Seta), teils über eine Periode grundlegender Neuorientierung hin (Nachbarn). Dabei werden zwar einige wichtige Motive und Themen (Jugend/Alter, Paarbeziehungen, Trauer …) gespiegelt; dennoch sind diese Exkurse nur sehr lose verbunden und wirken beim Lesen seltsam befremdlich und funktionslos.
»Stanno tutti bene tranne me« ist der soeben (September 2013) erschienene erste Roman von Luisa Brancaccio (1970 in Neapel geboren). Sie überzeugt darin durch erstaunliches psychologisches Einfühlungsvermögen und ihr Talent, genau und stimmig zu formulieren. Strukturell fand ich das Buch allerdings unbefriedigend.