Italien(isch) lieben und verstehen
»Il re del caffè«, »il Frate di Pietrelcina«, »Nico lo Zombie«, »nonno, nipote, cane e polpo«, »terroni« und »polentoni«, boshafte »munacielli« und viele andere sind die kleinen und großen Helden, über die Valeria Vairo Geschichten erzählt, die direkt das Herz eines jeden Italien-Fans anrühren.
Die fünfzehn Erzählungen illustrieren auf sehr persönliche Weise, wie ›die Italiener‹ zu Familie, Religion, Aberglaube, dem Meer und dem caffè stehen. Die Autorin ist gebürtige Italienerin, kennt also die guten und weniger guten Seiten ihrer Landsleute und weiß sie auf liebenswürdige und verständnisvolle Weise (und mit einem Augenzwinkern) zu porträtieren. Sie lebt jedoch auch schon lange genug in Deutschland, um die nordalpine Perspektive auf das Belpaese einnehmen und mit verbreiteten Vorurteilen spielen zu können.
Politik und aktuelle soziale Fragen bleiben außen vor; stattdessen wählt sie »un'altra strada. Quella di parlare dell'Italia che mi è rimasta nel cuore creando storie senza tempo, raccolte tra i ricordi miei e quelli di altre persone, ovviamente impastandoli con la mia fantasia.« Mit diesem Konzept und beachtlichem schriftstellerischem Talent der klassischen Schule entstanden vielfältige Skizzen mit unaufgeregten einfachen Handlungen. Tony, der sein Leben auf allen Meeren und in allen Häfen der Welt zugebracht hat, kehrt ins heimatliche Termoli zurück, um sich hier zur Ruhe zu setzen. Cristina reist aus dem grigiore di Milano zu zia Lucia und cugina Manuela ans Meer, und alle drei haben nur ein Ziel vor Augen, koste es, was es wolle: ihre Blässe loszuwerden und das Strandleben zu genießen! Kann Padre Prio den Kinderwunsch von Marta und Gianni erfüllen? Wird Marco jemals die Statue des Cristo Morto bei der Karfreitagsprozession tragen dürfen?
Den drei Erzählungen zu jedem der fünf Themenkreise geht jeweils ein kurzer einführender Essay zum Thema voraus. Besonders aufschlussreich ist der Blick hinter die Kulissen der vielgerühmten italienischen Familienbande. Es gibt sie noch immer, die »famiglia allargata« mit Eltern, Kindern, Großeltern, Onkeln und Tanten und ihrem großen Vorzug, dass »i legami affettivi garantiscono una rete di protezione su cui poter contare pressoché in qualsiasi momento«. Aber ihren Preis empfinden heute viele als zu hoch: »una totale mancanza di privacy, intromissioni continue nella vita dell'altro (molti matrimoni che si rompono in Italia lo devono a una suocera invadente), condizionamenti e obblighi parentali da cui non ci si può sottrarre«. In den modernen Patchwork-Familien hat der Begriff »famiglia allargata« eine neue Bedeutung, wie die Autorin hübsch illustriert. Die drei Erzählungen zum Thema drehen sich dann um die soprannomi in einer Großfamilie, um einen Schürzenjäger all'antica und die Rolle der Frauen, schließlich um die kaum unter einen Hut zu bringenden Unterschiede zwischen nord- und süditalienischer Familien- und Lebenseinstellung.
Die Texte vermitteln differenzierte Einblicke in die italienische Mentalität und unterhalten uns dabei dank ihrer Anschaulichkeit, der einfühlsamen Porträts (»occhi color dell'oceano in cui era scritto il destino«) und vielfältiger Stimmungen. Im Mittelpunkt aber steht die Sprache.
Denn die Reihe »dtv zweisprachig« richtet sich an Leser, die ihr Sprachverständnis auf genüssliche Weise verbessern möchten. Man liest zügig den italienischen Text auf der linken Seite und wird die deutsche Übersetzung auf der rechten weitgehend unbeachtet lassen, bis man an einer unklaren oder kniffligen Stelle innehält, sich seines Verständnisses vergewissern möchte oder einer kleinen Hilfestellung bedarf. Das ist bequem und funktioniert gut – Sie erhalten einen Vorgeschmack, wenn Sie Ihre Maus über die obigen Zitate führen. Sie werden erstaunt sein, wie rasch man sich ›einlebt‹, je mehr Seiten man verschlungen hat. Ohne bewusste Anstrengung verleibt man sich wiederkehrende Grundstrukturen (wie Verbformen der Vergangenheit und Konditionalsätze) und den thementypischen Wortschatz ein.
Die deutsche Version auf der rechten Seite (sie wurde von Ina-Maria Mertens geschaffen) ist eine anspruchsvolle Übersetzung in gutes, flüssiges Deutsch, aber so nah wie möglich am italienischen Original. Gelegentlich entfernt sie sich jedoch auch, wie das folgende kleine Beispiel illustriert: »Così siamo fra di noi e ci divertiamo di più!« verkürzt Ina-Maria Martens zu »Es ist viel schöner, wenn wir unter uns sind!« Wer dann punktgenaue Hilfe sucht, wie zum Beispiel eine bestimmte Vokabelbedeutung oder grammatikalische Form, kann an die Grenzen des Verfahrens stoßen. (Reclams »Rote Reihe« geht einen anderen Weg: Nur Vokabeln, die nicht zum Grundwortschatz gehören, werden als Fußnoten übersetzt.)
Die bewährte Reihe »dtv zweisprachig« umfasst aktuell 20 Titel, die nach Schwierigkeitsgrad differenziert sind. »Profumo d'Italia | Ein Hauch Italien« richtet sich an Fortgeschrittene; Anfängern empfehle ich »Ricordi, ricordi | Italien erinnert sich« – »kleine Lokalberichte« zur italienischen Kultur und Geschichte – und »Carrellata sull'Italia | Italien in kleinen Geschichten« mit unterhaltsamen kurzen Texten zur Landeskunde (einschließlich Rezepte). Stöbern lohnt sich, denn die Bandbreite an Themen und Genres ist groß, und im Antiquariat finden sich noch viele nicht mehr aufgelegte Titel.