
Nikolas in Nöten
Dass der Weihnachtsmann jedes Jahr die Menschenkinder mit wundervollen Geschenken beglückt, ist uns so selbstverständlich wie die Zeugnisbescherung zum Schuljahresende. Wer hätte gedacht, dass es einmal eine düstere Zeit ohne diesen Brauch voller Wunder und Magie gab, dass der Weihnachtsmann in Wahrheit Nikolas heißt und er aus Finnland stammt? So etwas erfährt, wer sich auf das wunderbare, liebevoll gemachte Weihnachtsbuch »Das Mädchen, das Weihnachten rettete« einlässt. Der britische Autor Matt Haig (*1975) feuert darin nicht enden wollende Salven von witzigen, absurden, fantasievollen Einfällen, spannenden Abenteuern und wechselnden Stimmungen ab. Worum es geht und wie alles ausgeht, das verrät schon der Titel. Aber der Handlungsverlauf ist in seinem Einfallsreichtum so überraschend, teils humorvoll, teils aktionsreich, teils bedrückend, teils makaber, dass man bis zum Schluss am Ball bleibt. Sophie Zeitz-Venturas ausgezeichnete Übersetzung, die DTV jetzt rechtzeitig zum Fest vorlegt, steht dem 2016 in Großbritannien erschienenen Original »The girl who saved Christmas« in nichts nach.
Der achtjährigen Amelia Wishart verdanken wir, dass das Wunder Weihnachten uns immer noch erfreut. Sie lebt im Jahr 1840 in London. Der Vater ist im Krieg im fernen Burma gefallen, Mutter Jane hält sich und ihr aufgewecktes Töchterchen als Schornsteinfegerin über Wasser. Doch Frau Wishart ist schwer krank. Seit sie das Bett hüten muss, nimmt Amelia ihr die mühselige Arbeit in den engen, schmutzigen Schloten ab. Damit verdient das Kind wenigstens so viel, wie die beiden für ihre dürftige Ernährung und Janes wichtige Medizin benötigen. Bald spricht die Mutter von ihrem bevorstehenden Tod. Sie habe aber Vorsorge getroffen, dass Amelia nicht auf der Straße verhungern müsse, sondern im Arbeitshaus aufgenommen werde.
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Eine grausame Vorstellung für das Mädchen. In ihrer Verzweiflung schreibt sie einen Wunschzettel an den Weihnachtsmann, den einzigen, der Wunder bewirken kann. Ihr einziger Wunsch: »dass du meine Mutter gesund machst, bevor es zu spät ist«. Schon im Jahr zuvor hatte ihr fester Glaube an den Weihnachtsmann ein magisches Licht am Himmel strahlen lassen, das ihn sicher in die Gasse leitete, wo Amelia wohnt. Dann hatte er ganz unerwartet den Strumpf, den sie an ihrem Bett aufgehängt hatte, mit Spielsachen gefüllt.
Amelias Brief erreicht rechtzeitig seinen Adressaten im Wichteldorf Elfhelm, wo die Vorbereitungen auf Hochtouren laufen. Selbst Nachtschichten werden eingelegt, um letzte Produktionsschwierigkeiten zu beheben, damit all die Spielsachen im »unerschöpflichen Sack« verstaut und auf den Rentierschlitten geschafft werden können.
Doch niemand hat mit der Niedertracht der Trolle gerechnet. Das sind riesige, hässliche Wesen, unterschiedlich groß und schauerlich anzusehen, denn mancher hat zwei Köpfe, ein anderer nur ein Auge, das er aber, um damit besser um die Ecke schauen zu können, aus der Augenhöhle nehmen kann. Dieses Lumpenpack haust in einem Gewirr unterirdischer Höhlen, babbelt dummdreist mit hessischem Zungenschlag und ernährt sich von gebratenen Ziegen. (Zur Not würden sie auch eins der Wichtelchen verspeisen, obwohl die nicht sonderlich nahrhaft sind.) Befallen von einem mysteriösen Wahn, über den nicht einmal das Standardwerk »Vollständige Trollpedie« Auskunft zu geben weiß, reißen sie die Erde auf, tauchen aus allen Bodenspalten auf, werfen mit Felsbrocken um sich, stampfen mit ihren unförmigen Füßen eine Art Schuhplattler. In einer Aktion, die selbst Väterchen Wodol, den Wichtel mit dem größten Wortschatz und Herausgeber der Troll-Zeitung »Der Tagesschnee«, nach Worten ringen lässt (»Ein ... ein ... Mega-Giga-Popelplex!«), fallen die Monster über Elfhelm her, zerstören es und versenken die Trümmer im Erdboden. Weihnachten wird ausfallen müssen.
Auf Erden sieht es nicht weniger trist aus. Amelias Mutter stirbt, und das Mädchen wird in das düstere Arbeitshaus geschafft, wo sie in der Wäscherei schuften muss. Ein Fluchtversuch scheitert. Nach einem leidvollen Jahr hat sie jegliche Hoffnung verloren. Gegen den Weihnachtsmann, der sie so bitter im Stich ließ, hegt sie eine besondere Wut.
Die Wichtel haben das ganze Jahr damit verbracht, ihr Dorf wieder aufzubauen. Dieses Weihnachten darf nichts mehr schiefgehen. Der Schlitten erstrahlt in noch schönerem Glanz als vor seiner Zerstörung. Kipp, der Leiter des Schlittenzentrums, hat das Gefährt mit Kompass, Höhenmesser, Triebwerk und Telefon technisch upgedatet. Die Rentiere sind angespannt, der »unerschöpfliche Sack« ist gefüllt, und der Weihnachtsmann startet durch auf seine weite Reise nach London, zu Amelia.
War Kipps Höhenmesser noch nicht ganz ausgereift? Jedenfalls schießt das Rentiergefährt mit voller Wucht durch ein riesiges Fenster eines riesigen Gebäudes und schlittert über feinen Parkettboden, bis es vor einem Himmelbett zum Stehen kommt. Darin erwacht von dem Getöse die erhabenste Person der Welt, Queen Victoria. Nur schwer gelingt es dem verdächtig gekleideten Mann mit Vollbart, ihre Majestät davon zu überzeugen, dass er kein französischer Attentäter, sondern ein Abgesandter aus Elfhelm mit einer wichtigen Mission ist. .
Kaum der drohenden Hinrichtung entgangen, erwarten den Weihnachtsmann die nächsten Abenteuer, denn nun muss er Amelia finden. Die gilt mittlerweile als aufsässige Göre und wird, um sie Mores zu lehren und zu einem folgsamen Mädchen zu erziehen, im dunklen Kellerverließ des Arbeitshauses gefangen gehalten. Wie kann der dicke ältere Herr dort eindringen? Zum Glück begegnet er Charles Dickens, dem Spezialisten für die Misere armer Kinder seiner Zeit, und der hat eine tolle Idee ... Nach Amelias Befreiung und der gewaltigen Beschenkungsreise zu sämtlichen Kindern dieser Welt brodeln im Wichteltal immer noch die Troll-Gefahren – kurzum: Eine besinnliche Weihnacht erleben wir hier nicht so schnell.
Hiermit ist der Handlungsrahmen für Erwachsene auf der Suche nach einem originellen Geschenk grob umrissen, und mehr wird nicht verraten, denn auch für die Großen ist es höchst amüsant, spannend und reizvoll, sich von all den kuriosen Ereignissen bezaubern und überraschen zu lassen.
Je älter die Leser sind, desto größeres Vergnügen werden sie an den skurrilen Einfällen und Anspielungen des Autors empfinden. Köstlich die Szenen bei Hofe, die recht despektierlich – auch die höchsten Tiere sind nur Menschen wie du und ich – vorführen, wie die Queen und ihr deutscher Prinzgemahl Albert miteinander umgehen (übrigens durchaus im Einklang mit der historisch verbürgten Wahrheit). Intelligent der Einfall, Charles Dickens (bekanntlich selber Verfasser einer »Weihnachtsgeschichte«) auftreten zu lassen und auf Motive seiner Bücher zu rekurrieren.
Die Altersempfehlung – zehn bis zwölf Jahre – hat ihre Berechtigung. Für zartfühlende jüngere Leser mögen manche der dargebotenen Abenteuer starker Tobak sein. Die Trolle etwa sind bei aller Dödeligkeit und trotz ihres putzigen Dialekts missmutige und bösartige Wesen. Die von Chris Mould mit feinem Strich und Liebe zum Detail gefertigten Schwarz-Weiß-Illustrationen konkretisieren einerseits, was der Text evoziert, andererseits geben sie den gruseligen Kreaturen Gestalt und Gesicht, die ihrerseits die Fantasie beflügeln und ein Kind verängstigen können. Wie in alten Märchen (deren Drastik manche Eltern heutigen Kindern nicht mehr zumuten wollen) erleben die Kleinen nach dem emotionalen Aufruhr von Misserfolg, Grausamkeit und Tod am Ende die Erleichterung des glücklichen Ausgangs: Erfolgreich leistet die mutige Amelia Widerstand gegen die ungerechte Bevormundung durch die rechthaberischen Erwachsenen, die Bösen bekommen so richtig eins übergebraten, und Weihnachten ist, wie jeder am eigenen Leib feststellen kann, gerettet.