![Rezension zu »24 x Charles Dickens für den Advent« von arsEdition [Hrsg.]](https://www.buecherrezensionen.org/pics/books/1160.jpg)
Bittersüße Erzählungen, hübsch verpackt
Seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts schon steigern Adventskalender die Vorfreude auf das bevorstehende Fest und strukturieren die Wartezeit, indem das Kind täglich eins von vierundzwanzig Fensterchen eines Wandbildes öffnen und sich über die Überraschung dahinter freuen darf. Das waren anfangs bunte Bildchen (Engel, Tannenbaum, Stern, Schlitten und endlich das Christkind in der Krippe), später kleine Schokoladenfigürchen. Dann bastelten Generationen von Eltern Wandbehänge, Girlanden und Leitern mit Taschen und Säckchen mit maßgeschneiderten Präsenten fürs Kind. Heutzutage kann, wer mag, sein Kalendertürchen mit einem Mausklick öffnen und sich virtuell beglücken lassen.
Der Verlag arsEdition, spezialisiert auf Dekoratives, hat als neue Spielart eine Buchserie entwickelt, bei der man, statt Fensterchen zu öffnen, Doppelseiten aufschneidet (bitte sorgsam mit scharfer Klinge!), um die sich entfaltenden adventlichen Texte zu genießen. Thematisch bietet die 2015 begonnene Reihe nach Grusel-, Kamin-, Einschlaf- und literarischen Geschichten jetzt Auszüge aus Werken von Charles Dickens (1812-1870), der großartig und subtil formulieren, spannend erzählen, zu Tränen rühren und gleichzeitig die entsetzlichen sozialen Bedingungen seiner Zeit anprangern konnte: eine vorurteilsbehaftete, starre Klassengesellschaft, die Nöte völlig verarmter Arbeiterfamilien, die menschenunwürdigen Wohnbedingungen in den Slums, Krankheit, Kinderarbeit, Kriminalität als Folge materieller Verelendung.
Bücher und Musik-CDs für die Advents-
und Weihnachtszeit finden Sie hier.
Aus etlichen Erzählungen und einem Roman des viktorianischen Bestseller-Autors und Moralisten hat der Verlag zur vorweihnachtlichen Erbauung geeignete Passagen herausgesucht und gekürzt, um sie dem Raster des Formats anzupassen. Die Straffung – dem Wissenschaftler ein Gräuel – macht die verästelten Originaltexte vor allem für jüngere Leser leichter genießbar.
Dickens hat zwischen 1843 und 1847 jährlich eine Weihnachtsgeschichte veröffentlicht, die alle von der Läuterung hartherziger oder missgeleiteter Menschen handeln. Vier von ihnen sind auszugsweise hier veröffentlicht. Am 8. und 9. Dezember lesen wir »Das Heimchen am Herde« (»The Cricket on the Hearth«, 1845), die Geschichte einer Eheschließung mit Hindernissen. Am 11. Dezember begleitet der Klang der »Silvesterglocken« (»Chimes«, 1844) das mühselige, glücklose Leben eines armen Dienstmanns und seiner Tochter, und am 16. Dezember darf der mit seinem Schicksal hadernde Mr Redlaw durch die Mithilfe eines eigenartigen Geistes die Ungerechtigkeiten und Sorgen seines bisherigen Lebens vergessen (»Der Behexte und der Pakt mit dem Geiste«/»The Haunted Man«, 1847). Natürlich ist auch die Nummer Eins der Dickens-Hitparade, »Eine Weihnachtsgeschichte« (»A Christmas Carol«, 1843), in dieser Sammlung präsent. Die dramatische, mehrfach verfilmte Wandlung des geizigen, eiskalten Ebenezer Scrooge zu einem gütigen Menschen wird in mehreren Portionen serviert und findet just am 24. Dezember ihren glücklichen Abschluss.
Die anderen neun Texte dürften hierzulande fast unbekannt sein. Eine thematische Erweiterung des mehrstimmigen Kanons über die Vorweihnachtszeit bringt am 10. Dezember die Liebesgeschichte »Der Kampf des Lebens« (»The Battle of Life«, 1846). Vom 12. bis zum 15. Dezember begleitet uns die kleine Novelle »Doktor Marigold«. Deren Protagonist – ein fliegender Händler – ist keineswegs promoviert, sondern heißt mit Vornamen »Doctor«. Aus Gram über den Verlust von Ehefrau und Tochter nimmt er eine taubstumme, misshandelte Halbwaise zu sich, lehrt sie mit Hilfe einer selbst erfundenen Zeichensprache zu kommunizieren und stärkt sie zu einem eigenständigen Leben.
Von Dickens' vielen umfangreichen Romanen ist nur »Die Pickwickier« (»The Pickwick Papers«, 1836-37) vertreten (18. Dezember).
Wie die anderen der Reihe ist dieses Buch solide gebunden und erfreulich unsentimental gestaltet. Adventliche Embleme und winterliche Arrangements bilden als schlichte Schablonen in einfachen Farben einen ansprechenden Rahmen für die Texte. Gelegentlich illustrieren stilisierte Szenen, großflächig über Doppelseiten arrangiert, eine Episode und stimmen nachdenklich. Zum Abschluss jeden Tages spendet eine von Vignetten umrahmte Dickenssche Lebensweisheit ein Lächeln, Erkenntnis, Trost oder Ermutigung.
Ein hübsches Geschenk für literarisch anspruchsvolle Teenager und Erwachsene, aber Vorsicht: Für die gängigen Adventskalender an der Wand ist es zu groß und zu schwer.