Den Nächsten, der Frohe Weihnachten zu mir sagt, bringe ich um
von Johannes Engelke
Na dann: »Frohe Weihnachten!«
Warum nur so gereizt? Wo Weihnachten doch das Fest der Liebe ist und man folglich jedem Passanten von Herzen ein »frohes Fest« wünscht! Und nun sollen Weihnacht und Mord zusammengehen? Wie das?
Bücher und Musik-CDs für die Advents-
und Weihnachtszeit finden Sie hier.
Die zwölf Kriminalgeschichten in dieser Sammlung sind auf unterschiedlichste Weise mit den Feiertagen verknüpft – durch die Wetterlage, einen Namen, einen Wunsch, einen Kerzenständer, einen Markt oder schlicht durch das Datum – nur durch eines nicht: Besinnlichkeit. Im Gegenteil: Die eine oder andere Erzählung ist so nervenaufreibend, dass einem das Blut in den Adern gefriert, selbst wenn draußen mal wieder Frühlingswetter herrscht statt dass der Schnee leise rieselt und den Schneehasen Tarnung verschafft.
Diese possierlichen Tierchen machen sich ja rar; nur selten wagen sie sich aus dem schützenden Forst. Dann zieht es sie zu den heimeligen Wohnstätten der Menschen, wo sie im Wohlstandsmüll ohne Mühe Nahrung finden. Das kann gefährlich werden, zum Beispiel, wenn sie sich auf einen Grünstreifen vorwagen. Während sie unbekümmert vor sich hin mümmeln, tobt um sie herum der Straßenverkehr. Und oops, schon ist es um ein naseweises Häschen geschehen. Wir klugen Menschen aber erfahren, dass seine fatale Kollision mit einem Auto keine Folge zufälligen Zusammentreffens, sondern das blutige Resultat eines perfiden Plans war. Jemand hatte das Gefährt manipuliert, die Bremsfunktionen deaktiviert. So sollte der Kraftfahrzeugführer nachempfinden, wie es sich anfühlt, »zum Mörder wider Willen zu werden« …
Kann man sich eine Krippe ohne den guten Josef vorstellen? Na, das geht ja wohl gar nicht. Dennoch fragt Autor Daniel Holbe: »Wer braucht schon Josef?« Aber sein Josef ist kein Zimmermann, sondern heißt »Zimmermann« und ist auch kein Guter. Er verkehrt mit zwielichtigen Gestalten wie einem Türsteher und einem versierten Autoknacker. Wie Zimmermann Josef ist Josef Zimmermann verheiratet. Seine Holde heißt nicht Maria, sondern Marylie, und sie hat wegen ihres Metiers (Taschendiebin) begnadet flinke Hände. Von dem Kleinkram hat sie jedoch die Nase voll; jetzt will sie es wissen und mal richtig Geld abschöpfen. Die Gelegenheit dazu bietet sich gerade an, denn aus dem im Prinzip abgelaufenen Techtelmechtel mit einem stinkreichen Frankfurter hat sie von ihm ein Baby an der Backe und könnte den verheirateten alten Sack somit erpressen. Für diese Aktion braucht sie freilich Josefs Hilfe. Doch dann läuft der Überfall in der noblen Villa nicht ganz so wie geplant, und bald finden sich alle Beteiligten als Figuren in einer »lebendigen Krippe« wieder …
Das Konzept, verschiedene Schriftsteller, deren Namen noch nicht allgemein bekannt sind, mit kurzen Lesepröbchen und ihrer »Autorenvita« gemeinsam in einem Buch vorzustellen, ist reizvoll, entdeckt man doch echte neue Talente.
Alex Berg etwa gestaltet ihr »Wintermärchen« als wahren Horrortrip. Protagonistin Manu muss dringend abschalten, ehe ihre Probleme sie überrollen. Partner Helge verlässt sie, böse Schnitzer bei der Arbeit in der Werbeagentur bringen ihr eine Abmahnung ein, nachts findet sie keinen Schlaf … Erholen kann sie sich am ehesten beim Joggen in freier Natur, bis der Rausch des Laufens sie davonträgt. Doch eines Tages muss sie sich vor einem Keiler und seiner Rotte auf einen Hochsitz retten – der Aufenthalt dort oben entwickelt sich zu einem Albtraum. Uralte grausame Erinnerungen überfallen sie, einstige und heutige Realität vermischen sich mit blutigen Fantasien. Großartig!
Simone Buchholz’ Erzählung »Das kalte Licht« spielt in einem Motel an einem Highway in Alaska. Merkwürdig: »Berichte von Leuten, die in dem Motel übernachtet haben, gibt es nicht.« Nicht dass sich nicht ab und zu Gäste einfinden würden. Gestern etwa kam ein Trucker vorgefahren. Obwohl selber dick und hässlich, hat er dumme Bemerkungen über die lady an der Rezeption und ihr Kostüm gemacht. Aber dann lief es wie immer. Der ganze überflüssige Pröll, den der Kerl in seinem Fahrerhaus gebunkert hatte, ist rückstandslos entsorgt und der Laster im Endlager deponiert. Jetzt langweilt sich die Empfangsdame wieder zu Tode – wenn sie sich nicht ihrem Tagebuch widmet, wo sie in lakonischem Telegrammstil ihren Tagesablauf samt Mahlzeiten und Gefühlen, Listen (»was überflüssig ist«) und spöttische Kommentare über Mitmenschen festhält … Die vereinsamte Alte hat sich ein ganz besonderes eigenes Universum zurechtgebastelt und sich selbst darin eine wichtige Aufgabe auferlegt: Sie muss die Welt sauber halten. Was für eine verrückte, skurrile Geschichte!
Jetzt ist aber Schluss! Die anderen Türchen dieses erzählerischen Adventskalenders bleiben schön zu. Lassen Sie sich einfach von Tag zu Tag überraschen – jede Geschichte hat ihren eigenen Reiz.
Ein Band mit dem Titel »Den nächsten, der Frohe Weihnachten zu mir sagt, bringe ich um«, bar jeglicher christlicher Sinnbezüge, in finsteres Schwarz gebunden und mit Aufsehen erregendem blutrotem Buchschnitt versehen, ist natürlich kein Geschenk für jedermann. Wer aber auch zur Advents- und Weihnachtszeit auf Thrill, Makabres und Gruseliges eingestellt ist, wird sich über vierhundert Seiten davon im Nikolausstiefel oder auf dem Gabentisch freuen.
Die zwölf Geschichten stammen von (in alphabetischer Reihenfolge) Zoë Beck, Alex Berg, Simone Buchholz, Petra Busch, Frank Göhre, Markus Heitz, Daniel Holbe, Sven Koch, Claudio M. Mancini, Karen Rose, Heinrich Steinfest und Markus Stromiedel. Johannes Engelke ist der Herausgeber.