Schweigen ist immer besser ...
Eigentlich war Serenellas Geld und nicht der heftige Streit zwischen Vater Nicolo und Bruder Tancredi Schuld an der Familientragödie der Ciraulos. Als Serenella, die sechsjährige Tochter, vor einigen Jahren zwischen die Fronten zweier verfeindeter Mafiaclans geriet, ein Schuss ihre Beinvene verletzte und sie verblutete, erkämpfte Vater Nicolo mit großem Aufmerksamkeitsaktionismus - Anketten vor der Präfektur, Hungerstreik - mehrere Millionen Lire aus dem Gesetz zur Entschädigung von Mafiaopfern.
Bis das Geld auf ein Bankkonto - so etwas haben die Ciraulos noch nie besessen - überwiesen wird, vergeht eine Ewigkeit. In der Zwischenzeit haben sie schon soviel Geld auf Pump ausgegeben (sie wissen kaum wofür), dass sie bei niemandem mehr anschreiben lassen können. Jetzt müssen sie zu Wucherzinsen Geld leihen, um ihre exorbitanten Schulden zurückzuzahlen, beim Anwalt und bei Signor Pino, einem Pensionär, der ihnen sehr geschickt Kredite andrehte. Von dem ursprünglich erwarteten reichen Segen sind am Ende nur noch ein paar Piepen übrig.
Schon lange hatte Nicolo, der Patriarch und arbeitslose Hungerleider, für sich entschieden, davon sein Traumauto zu kaufen: einen schwarzen, hochglänzenden Volvo, ausgerüstet mit "A-be-es! Cedepläier! Und Navi." Seine Augenweide, ein "Kulturgut" in der ärmlichen Wohngegend Palermos, steht unter ständiger Kontrolle vor dem Haus.
Eigentlich wollte Nicolo das Auto seinem Sohn Tancredi, dem blöden Stockfisch und Taugenichts, gar nicht leihen, als der es für einen Discobesuch mit seiner Freundin wollte. Und prompt bringt er es auf Grund eines Wendemanövers mit einem kleinen Kratzerchen zurück. Das bringt Nicolo am nächsten Tag dermaßen in Rage, dass er seinen schlafenden Sohn vom Sofa prügelt. Ein Schuss fällt, und der Vater ist tot. Umringt von der ganzen Familie hat Großmutter Rosa die Situation sofort im Griff, und damit präsentiert uns der Autor Roberto Alajmo ein bühnenreifes Stück: "Bringen wir's hinter uns," hatte Rosa beschlossen. Als die Polizei eintrifft und den Toten in seiner Blutlache sieht, fällt Ehefrau Loredana mit "Ahoaha"-Gejammer in Ohnmacht, Großvater Fonzio spielt den Idioten, die Polizisten fühlen sich "verarscht", und Rosa zeigt auf die Badezimmertür: "Es war mein Enkel." Der, Tancredi, sitzt auf dem Klodeckel, fixiert die Marmorsplitter im Fußboden und würde am liebsten in einem Loch verschwinden. Doch nun ist er der Familie endlich zu etwas nütze, er wird die Schuld auf sich nehmen und ins Gefängnis gehen. Doch sprechen wird er von nun an kein Wort mehr, denn zu schweigen ist besser ...
Roberto Alajmo hat einen virtuosen, vielschichtigen, durchgehend faszinierenden Roman geschrieben. Die Ciraulos sind beispielhaft für das sizilianische Verständnis von Familie. In einer nach außen absolut geschlossenen Gemeinschaft steht jeder für den anderen gerade; selbst wenn derjenige dabei vor die Hunde gehen sollte, so dient es doch dem Wohl der Familie, und nur das zählt. Die Polizei prallt an der Mauer des Schweigens ab. Und Großmutter Rosa, Zeugin und Regisseurin des Geschehens, sagt knallhart: "Keine Ahnung. Ich kann Ihnen Ihre Arbeit ja nicht abnehmen ..." (S. 24)
Psychologisch perfekt entwickelt Alajmo die Figur Tancredis. Schon im Buchtitel schuldig gesprochen, verinnerlicht er zunächst ein Gefühl des Beteiligtseins, bis er völlig überzeugt ist, dass das, was ihm alle einreden, wahr sein muss. Eine moralische Tragödie. Ist er der tatsächliche Mörder? Wo ist die Pistole? Bei der Hausdurchsuchung wurde sie nicht gefunden ...
Roberto Alajmo, 1959 in Palermo geboren, war mir bisher nicht bekannt. Sein Roman "Es war der Sohn", der oft nüchtern, aber auch witzig-amüsant ist, dann voll bissigem Humor einzelne Figuren bloßstellt, voll schlagfertiger Dialoge steckt, hat mich sprachlich begeistert. Viele Szenen hauen einen echt um. Der zwischendurch immer wieder aufgenommene fortlaufende Handlungsstrang von Tancredis Haft (er teilt sich eine Zelle mit einem rauchenden Slawen) ist gespickt mit skurrilen Absurditäten.
Ein stimmiges Bild der italienischen Familie alter Tradition, eingebettet in die mafiöse Gesellschaft Palermos, dazu das sehr traurig stimmende Psychogramm eines jungen Mannes, der, als Muttersöhnchen verhätschelt, alles stoisch mit sich machen lässt - kurzum: Ein Roman mit Krimi-Charakter, der mir noch lange in Erinnerung bleiben wird.
Die italienische Originalausgabe È stato il figlio erschien 2005 bei Mondadori.
P.S.: Roberto Alajmo wurde mehrmals mit italienischen Literaturpreisen ausgezeichnet, u.a. 2003 mit dem Premio Campiello für seinen Roman Mammaherz (Unionsverlag, 2010, 251 Seiten; italienische Ausgabe: Cuore di madre, Mondadori, 231 Seiten).
Nachtrag im September 2015: