Gibst du mir, dann geb ich dir ...
Dem Plot liegt das Verbrechen von Garlasco zugrunde: Die junge Studentin Chiara Poggi wurde am 13. August 2007 tot in ihrer Wohnung aufgefunden, mit einer Schneiderschere erstochen. Alle Ermittlungen richteten sich gegen ihren Verlobten Alberto Stasi. Der Fall erregte riesiges mediales Interesse. Da begann Camilleri, seinen Roman "Das Netz der großen Fische" zu schreiben; es sollte ein "historischer" Roman werden - einer über die aktuellste Geschichte.
In einer "Anmerkung" am Ende dieses Romans reflektiert Andrea Camilleri über die Frage, was einen historischen Roman als solchen kennzeichne, und betont, dass alles außer dem "historischen Kern" der Garlasco-Konstellation allein seiner Fantasie entsprungen sei. Nie habe er recherchiert - er kenne sich weder im Rechtssystem noch mit dem Treiben der Medien noch mit der Macht der Banken noch in der Politik und ihren Institutionen aus; was er schreibe, wisse er lediglich aus der Zeitung. Experten würden also gewiss "Ungereimtheiten mit der Wirklichkeit ... belächeln" (218) - und dass der schlitzohrige Autor dies "umso besser" findet, zeigt uns, worauf es ihm ankommt: der Öffentlichkeit "Ungereimtheiten" vor Augen zu führen. Wenn einer sich auskennt, dann Camilleri, und so beschreibt er die genannten Aspekte der sizilianischen Gesellschaft wie immer meisterlich - einschließlich der Mafia mit ihrem bewährten Motto "Io ti do 'na cosa a te, tu mi dai 'na cosa a me" ("Gibst du mir, dann geb ich dir.").
Manlio Caputo wird verdächtigt, seine Verlobte Amalia Sacerdote ermordet zu haben. Beider Väter sind erbitterte politische Gegner: Manlios Vater Ignatio ist Abgeordneter der Linkspartei, Amalias Vater ist Generalsekretär der gegnerischen Partei, und dessen Stiefbruder zieht als mächtiger Mafiaboss geschickt die Fäden: Man wählt clevere Rechtsanwälte, tauscht den Staatsanwalt und den ermittelnden Commissario aus - und das neue Team zieht plötzlich einen anderen Verdächtigen aus dem Ärmel. Wird Manlio, der stets seine Unschuld beteuerte, seinen Kopf aus der Schlinge ziehen können? Ein Netz der Verstrickungen wird ausgelegt, das vor allem der Machterhaltung der ganz großen Fische dient.
All diese Entwicklungen sind natürlich brennend interessantes Futter für die Lokalpresse. Der große öffentliche Kanal RAI (die italienische ARD) unter Leitung von Michele Caruso hält sich dezent zurück und sendet Meldungen, die ein Informant Caruso während der Mittagsmeetings zuträgt, mit Verzögerung. Sein Gegenpart und Rivale Alfio Smecca möchte viel aggressiver berichten - und hat auch einen Protegé, der ihn auf Carusos Posten hieven möchte. Zur weiteren Komplikation trägt bei, dass Caruso pikanterweise eine Liebesbeziehung mit Smeccas Frau Giuditta unterhält. Schließlich wird Smecca durch menschliche Fügung nach Catania weggelobt, wodurch Caruso seine Geliebte verliert - doch seinen Posten behält er ja ...
Über viel Geld verfügt der Abgeordnete Filippone - ein großer Fisch, hat er doch gern Subventionen aus Brüssel in seine eigene Tasche gesteckt. Doch natürlich entwischt er aus dem Netz der Finanzpolizei.
Andrea Camilleri ist ein äußerst vielseitiger Autor. Alle Romane, die ich von ihm gelesen habe (siehe Links) sind völlig unterschiedlich, und zwar sowohl in ihrer Thematik als auch in ihrer sprachlichen Gestaltung.
Für "Das Netz der großen Fische" (Originaltitel: "La Rizzagliata") erhielt Camilleri den Literaturpreis Premio de Novela Negra 2009.