Rezension zu »Die Revolution des Mondes« von Andrea Camilleri

Die Revolution des Mondes

von


Historischer Roman · Nagel & Kimche · · 288 S. · ISBN 9783312006021
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Sizilien

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Eine königliche Revolutionärin

Rezension vom 25.02.2014 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Im schier unerschöpflichen Fundus der Geschichte Siziliens hat Andrea Ca­mil­le­ri ein kleines Intermezzo ausgegraben, das die Welt nicht verändert hat, aber noch uns Heutigen eine Lehre erteilen kann. Das be­sondere Geschick des Autors liegt darin, dass er der erzählten Episode meh­re­re Ebenen verleiht: Da sind zuallererst menschliche Schicksale, die uns anrühren (im Guten oder im Bö­sen); da fesselt uns eine span­nende Handlung (wird das Gute oder das Böse obsiegen?); da wird Politik ge­macht, die zu Vergleichen mit aktuellem Geschehen herausfordert; und da identifizieren wir in ferner Ver­gan­gen­heit zarte Wurzeln unse­rer glücklicheren Zustände.

Seit der »Sizilianischen Vesper« (1282) gehörte die Insel den Spaniern. Sie hatten nur eins im Sinn: mög­lichst viel Kapital aus dem Gebiet zu pressen; investiert oder modernisiert wurde nichts. Von 1517 bis 1707 regierten »Vizekönige« als Stellvertreter der spanischen Krone vor Ort. Die unglaublich verschwen­derische Hofhaltung in Palermo verschlang, was Bauern, Handwerker und Taglöhner mühselig erwirt­schafteten und die dunklen Kanäle durchlaufen hatte, aus denen Verwalter, Großgrundbesitzer, Steuerein­treiber und Hof­schran­zen schöpften. Gesetze und Moral zählten wenig; wer Pfründe hatte, bediente sich hemmungslos und versorgte zuallererst einmal sich und die Seinen. All das wurde theologisch legitimiert von einer Geist­lich­keit, der weltliche Macht und irdische Freuden wichtiger waren als die reine Lehre des Neuen Tes­ta­ments.

Camilleri führt uns mitten hinein in das gewaltige Räderwerk des palermitanischen Hofes, in dem Adel und Klerus um den Vizekönig kreisen wie in einem Miniaturmodell des Sonnensystems. In der Innenwelt die­ses Apparates interagiert jeder mit jedem – durch gemeinsames Intrigieren, Rivalisieren, Katzbuckeln, Ge­set­zes­bre­chen, Austricksen, Beutemachen; für die Würze des scheinheiligen Alltags sorgen Messersteche­reien, Missbrauch und hemmungslose Ausschweifungen.

1677 sitzt im Zentrum dieses Treibens der Vizekönig Marqués Don Angel de Guzmán. Als er zwei Jahre zuvor nach Palermo kam, war er noch keine dreißig und spindeldürr. Zwei Monate später begann er sich unaufhaltsam zu verformen und ist nun zu einer monströsen Erscheinung mutiert. Fett, träge, krank und schwach, überlässt er das politische Tagesgeschäft seinen Höflingen und Ratgebern im Heiligen Königli­chen Rat, dem er doch regierender Vorsitzender sein sollte. Sein nahes Ende ahnend, trifft er kluge Vor­sorge, indem er seine Gemahlin als Nachfolgerin im Amt einsetzt. Dann scheidet er während einer Rats­sitzung dahin.

Donna Eleonora ist mit kristallklarem Verstand und eiserner Willenskraft ausgestattet – und mit unver­gleich­li­cher, unwiderstehlicher Schönheit. In ihren Adern fließt sizilianisches Blut. Als Zehnjährige wurde sie ins Kloster gesteckt, dort lernte sie Italienisch und andere nützliche Dinge, bis sie es im heiratsfähigen Alter wieder verließ. 1675 nahm Don Angel sie zur Frau, und seither lebte sie zurückgezogen am Hof. Jetzt ist sie siebenundzwanzig, die erste Vizekönigin und so mächtig wie kaum eine andere Frau ihrer Zeit. Sie ist entschlossen, mit ihren weitreichenden Befugnissen den aufgeweichten Gesetzen wieder Geltung zu ver­schaf­fen und ihren malträtierten Landeskindern lange vorenthaltene Gerechtigkeit widerfahren zu las­sen.

Sie verliert keine Zeit. Sie senkt den Brotpreis. Sie gründet Konvente zum Schutz missbrauchter und ge­fährdeter Frauen. Sie gibt hundert Töchtern aus armen Familien eine »Königliche Mitgift«, um ihnen eine anständige Verheiratung zu ermöglichen. Sie spendet zur Finanzierung dieser Projekte das üppige »An­tritts­ge­schenk«, das Sizilien jedem neuen Vizekönig entrichten muss. Sie unterstützt Familien, die ihre Kin­der­zahl begrenzen. Sie führt eine moderne Gewerbeverwaltung ein. Und sie spürt persönlichen Ver­feh­lun­gen nach, ungeachtet des Rangs des Missetäters.

Ihr Volk bejubelt sie, doch die Zügel halten andere in der Hand. Bei Hofe sieht man seine Felle davon­schwimmen und intrigiert eifrig. Den Widerstand führt Bischof Don Rutilio Turro Mendoza an, der den Thron des Vizekönigs gern selbst erklommen hätte. Er schreibt Briefe an den Papst und an König Karl II. in Madrid, auf dass sie den Machenschaften dieser Frau, die offenkundig die gottgewollte Ordnung auf dia­bo­li­sche Weise unterminiert, abberufen. Sein stärkstes Argument ist, dass der sizilianische Vizekönig von Amts wegen zugleich »geborener Legat des Papstes« ist, und selbstverständlich könne eine Frau nie­mals päpstliche Würdenträgerin sein.

Stilistisch abwechslungsreich – Berichte, szenische Dialoge, Erzählpassagen – erfahren wir von den Ereig­nissen. Es versteht sich, dass eitler Prunk und hohle Fassaden ein gefundenes Fressen für einen Spötter und Satiriker wie Camilleri sind.

Seiner Erzählkunst gelingt es, Zeit, Raum und Bewegung am palermitanischen Hofe in einem schlüssigen Konzept zu verschmelzen. Die Drehung des Mondes begleitet den Lauf der irdischen Ereignisse, sie spie­gelt die starre Mechanik der Ehrerbietungen, das gebückte Kreisen blasser Schranzen um den Vizekönig, die Verdunklungen und Enthüllungen in Palast und Rat vor den Augen des Herrschers und hinter seinem Rücken, und sie setzt Anfang und Ende der Handlung um Eleonora.

Nach nur 28 Tagen – einer Mondphase – beendet der spanische König die Regentschaft der Eleonora di Mora.

In Wirklichkeit ist wenig überliefert von der Revolutionärin für vier Wochen. Camilleri hat die kargen Fakten aufgeschäumt und der Figur eine Gestalt gegeben, die sie vielleicht nie war. Wen schert's? Zwei­fellos war Eleonora di Mora eine außergewöhnliche, mutige Frau, die den Respekt ihrer Zeitgenossen und der Nach­welt verdient hat.

Einer wesentlichen Qualität der Camilleri-Originale müssen alle Übersetzungen notgedrungen entsagen: dem sizilianischen Dialekt (bzw. Camilleris spezieller Variante, dem »Vigatese«). Bei diesem Buch stellt sich ein zweites unlösbares Problem: Eleonora di Mora, halb Sizilianerin, halb Spanierin, parlierte in einem Mischmasch aus Italienisch und Spanisch, den der Autor eigens recherchiert und rekonstruiert hat (Kost­probe aus dem Original »La rivoluzione della luna« Andrea Camilleri: »La rivoluzione della luna« bei Amazon: »Y ahora, se non vi dispiace, se pase a los ar­gu­men­tos de discutere.«). Italienischen Lesern scheinen die umfänglichen (und gänzlich un­kom­men­tier­ten!) spanischen Passagen zumindest keine größeren Verständnisschwierigkeiten zu bereiten als »Vigatese«. Im Deutschen ist das naturgemäß nicht nachzubauen. Übersetzerin Karin Krieger hat einige spanische Bro­cken beibehalten, auch wenn sie im deutschen Satzfluss viel stärker aus dem Rahmen fallen als im ita­lie­ni­schen: »›Ist Euch dann wenigstens bekannt, quién es el padre?‹ Wer der Vater ist? Pater Asciolla zögerte mit der Antwort.« (im Original: »›Usted sabe por lo menos quién es el padre?‹ Patre Asciolla ebbi ’n’esi­ta­zio­ni ma arrispunnì.«) Damit kann man gut leben.


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