Rezension zu »La setta degli angeli« von Andrea Camilleri

La setta degli angeli

von


Historischer Kriminalroman · Sellerio · · 233 S. · ISBN 9788838925894
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Sizilien

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Schweigen ist Gold?

Rezension vom 20.12.2012 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

In sizilianischen Archiven muss Andrea Camilleri sich bestens auskennen. Jedenfalls entdeckt er da immer wieder Berichte von Ereignissen, die - sofern sie einen Bezug zur Gegenwart bieten - seine Fantasie beflügeln und zur Umsetzung in einem neuen Roman anregen. "La setta degli angeli" geht auf einen solchen Fall zurück.

Im Jahr 1901 kam ein sozial engagierter Anwalt und Journalist in seinem Heimatstädtchen einem Geheimbund von Priestern auf die Spur, die unter Ausnutzung ihrer Vertrauensposition Frauen sexuell missbrauchten. Der Fall erregte großes Aufsehen in ganz Italien. Was Camilleri aber ins Zentrum seiner Bearbeitung rückt, ist nicht primär das moralisch verwerfliche Tun der Kleriker, sondern wie im Nachhinein die Wahrheit verdreht wurde: Der zunächst wie ein mutiger Held gefeierte investigative Anwalt endete nämlich als Angeklagter, als Verursacher allen Übels.
Wie war das möglich? Seine Enthüllungsarbeit brachte den Opfern verdoppelten Schaden. Nach dem Missbrauch erlitten die Frauen jetzt öffentliche Schmach; ihre Aussichten, einen ehrenwerten Partner zu finden, waren dahin. Als sich bald das ganze Dorf pauschal in Misskredit geraten fand, wurden immer mehr Stimmen laut, dass an der Misere doch eigentlich der Aufklärer Schuld trage - schließlich war er es doch, der alles an die große Glocke gehängt hatte ...
Und damit schwenkte die Richtung der Vorwürfe, Angriffe und Verurteilungen um; eine Hexenjagd setzte ein - gegen den wackeren Anwalt Matteo Teresi. Er wurde exkommuniziert, man unterstellte ihm Mafia-Verbindungen, er geriet in völlige Isolation, niemand ergriff Partei für ihn; am Ende wanderte er nach Amerika aus.

Laut Camilleri legt der Vorfall den fatalen Schluss nahe, der Bürger solle sich gefälligst um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, sich bloß nicht in das Leben anderer Leute einmischen und schon gleich nicht mit dem Finger auf andere zeigen, denn das werde auf ihn zurückfallen. Und diese "Lehre" findet er noch heute in Kraft: Schweigen über Missstände halten viele für besser, als Personen oder Organisationen einen schlechten Ruf anzuhängen, selbst wenn sie Straftaten begangen oder sich schändlich verhalten haben.

Den historischen Fall stellt Camilleri in seinem Nachwort vor, deckt seine Bezüge zu unserer Zeit auf und erläutert, wie er die historischen Fakten kreativ verändert und ergänzt hat.

Er skizziert ein Landstädtchen von 7000 Einwohnern mit Großgrundbesitzern, niederem Landadel, Honoratioren, Handwerkern, Landarbeitern, Besitzlosen, dazu acht Kirchen, jede mit campanile und campane, deren Geläut über erdbebengleiche Potenz verfügt. Zentrum des höheren gesellschaftlichen Lebens ist der saluni (salone) im Circolo, wo die feinen Herren diskutieren, zanken, Plattitüden von sich geben und wo alle Rivalitäten und Intrigen ihre Heimat haben.

In diesen Kreis möchte auch Matteo Teresi, "Don Quijote" lesender Anwalt und Herausgeber einer Zeitung, aufgenommen werden. Aber sein Gesuch wird abgeschmettert. Er hat nicht die richtige Gesinnung. Nicht nur steht er politisch links und engagiert sich für arme Leute, sondern "si irride al sacramento del matrimonio e alla verginità delle fanciulle", wie Gemeindepfarrer Don Alessio Terranova von der Kanzel herab ins Feld führt.

Als Gerüchte aufkommen, die Cholera sei ausgebrochen, gefährden schnell Hysterie und Plünderungen die öffentliche Ordnung. Dank des kirchlichen Verkünders weiß bald jeder, wer die Nachricht in die Welt gesetzt hat: Teresi, der mit dem Teufel im Bunde steht.

Aber der aufrichtige, unbestechliche capitano Eugenio Montagnet greift entschieden durch, untersucht die Angelegenheit pflichtgetreu, entlastet Teresi und setzt des Priesters Rolle als Volksverhetzer ins rechte Licht.

Und nun folgen wir Teresis und Montagnets packenden Ermittlungen nach der wahren Seuche: der ruchlosen "Sekte der Engel". Die Priester zelebrierten geheime Messen und führten dabei junge Frauen in sexuelle Praktiken ein, auf dass sie bessere Ehefrauen würden und ihr Seelenheil sicher sei. Als gleich vier Frauen auf diesem Wege schwanger wurden, diagnostizierte der Bezirksarzt eine ansteckende Krankheit - und trat dadurch die Lawine der Cholera-Gerüchte los.

Das Lügengeflecht ist aufgedeckt, die Scheinheiligen sind entlarvt, das Städtchen gerät in Aufruhr. Teresi, der Idealist, der die Dinge verändern wollte, hat ironischerweise eben dies geschafft - und eben dies können ihm die Mächtigen niemals vergeben. Die wahren Schuldigen finden Wege, wie sie ungeschoren davonkommen; bluten müssen die armen Teufel.

Als eine der geschändeten Frauen in ihrer Not Selbstmord begeht und auch einer der Priester sich daraufhin das Leben nimmt, geht man im Circolo schnell wieder zur Tagesordnung über: "La carni è debboli!" "Santità e amuri terreno possono benissimo stari 'nzemmula" (insieme).

"La setta degli angeli" ist ein veritabler, spannender Kriminalroman, jedoch gewürzt mit Camilleris gewohnter Ironie und einem furchtlosen, aber nicht tabubrechenden Sarkasmus: Camilleri (der selbst nicht religiös ist) zeigt beispielsweise aufrichtigen Respekt für die Gläubigen und die Religion - sein Buch reitet keineswegs auf der weltweiten Welle des billigen Priester-Bashings.

Es ist aber auch ein echter "Camilleri": ein sizilianisches "Sittenbild", wie wir es immer wieder gerne genießen. Auf einer Drehbühne mit ländlichen Salons, Sakristeien und Gerichtssälen spielt eine ganze Truppe bunter Charaktere eine Vielzahl kleiner Episoden und Dialoge - komödiantisch, grotesk, surrealistisch, bitter, vor allem aber tragikomisch. Das Ensemble porträtiert auf unnachahmliche Weise sicilianità, aber darüber hinaus auch universale Menschlichkeit.

Der sizilianische Dialekt ist dafür ein konstituierendes Element. Ja, er erschwert uns und auch den Italienern jenseits des stretto di Messina den Einstieg. Da folgt eine merkwürdig "verunstaltete" Vokabel der anderen, aber nach ein paar Seiten gewöhnt man sich an das Lesen nach Art des island-hopping und erkennt, spürt oder erahnt durchaus, was geschieht, was der Erzähler oder die Figur vermitteln will - und mit welcher Färbung. Nur Mut! Hier eine kleine Textprobe (der Anfang) als amuse gueule:

"Se i signori soci vogliono prestare un momento d'attenzione" fici don Liborio Spartà, presidenti del circolo "Onore & Famiglia", "vorrei aprire l'urna e procedere al conteggio delle palline".
Nel saloni, il chiacchiarìo tra i soci s'astutò a picca a picca fino a un relativo silenzio. Relativo pirchì don Anselmo Buttafava si era come al solito addrummisciuto supra alla pultruna addamascata nella quali s'assittava da trent'anni e passa e runfuliava accussì forti che i vitra del balcuni che aviva davanti trimoliavano a leggio. Macari quanno, 'na decina d'anni avanti, avivano cangiato tutto il mobilio del circolo, quella pultruna avivano dovuto lassarla a esclusivo uso e consumo di don Anselmo, non c'era stato verso
. ...


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