Rezension zu »Romeo und Julia in Vigata« von Andrea Camilleri

Romeo und Julia in Vigata

von


Erzählungen · Nagel & Kimche · · 240 S. · ISBN 9783312006472
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Sizilien

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Burlesken mit zartem Biss

Rezension vom 25.02.2015 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Eine von Andrea Camilleris Spezialitäten ist es, die Menschen seiner si­zi­lia­ni­schen Heimat mit wenigen, präzisen erzählerischen Pinselstrichen zu cha­rak­te­ri­sie­ren. Er setzt sie dazu in wunderbare kleine Hand­lungsrahmen – wobei des Autors Fundus an fan­ta­sie­vol­len, originellen Plots unerschöpflich scheint. Fast im­mer schim­mern zudem kluge Anspielungen aus der europäischen Kulturgeschichte durch.

Wenn er nach den Wurzeln Siziliens sucht, gräbt er bis in die antike Mythologie (vgl. die »Trilogie der Me­ta­mor­pho­sen« [› Rezensionen]), aber offenbar am liebsten in der Zeit um 1900. Vielleicht weil es damals – vor Weltkrieg, Wirtschaftskrise und Faschismus – trotz der rigiden feudalen Gesell­schaftsordnung und der Armut in der Provinz noch Hoffnungen gegeben haben mag, kleine private Spiel­räume, in denen sich die einen voller Heldenmut, andere mit Idealismus und Tatkraft, wieder andere mit Träumereien oder Narreteien realisieren konnten. Wenn auch oftmals typisiert wie Figuren der commedia dell'arte, sind Camilleris Pro­ta­go­nis­ten am Ende immer um eine wichtige Erfahrung reicher, sei es, weil sie nochmal Glück hatten, einen kleinen Sieg errungen haben oder auf die Nase gefallen sind.

Natürlich sind sie alle Kinder ihrer Zeit. Ohne Bildung und Alternativen, fest verankert in ihrer Ordnung und abhängig von der besitzenden Führungsschicht, sind sie obrigkeitshörig, gläubig und leichtgläubig, ein­ge­bun­den in starre Rituale. Wir Leser begleiten Camilleris Figuren gern, amüsiert und aufmerksam, weil wir in ihnen erkennen, dass sie nicht nur Sizilianer, sondern Menschen sind wie du und ich. Trotz des Au­tors hu­mor­vol­len Grundtons und oft bissiger Ironie verletzt er niemals ihre Würde. Weil er sie ernst nimmt, ma­chen auch wir uns nicht über sie lustig, sondern denken über sie nach und bringen Mitgefühl und Soli­darität auf, auch wenn wir den einen oder anderen Tölpel belächeln.

Acht solcher liebenswerter, schelmischer, bewegender, wunderlicher Erzählungen versammelt der Band »La regina di Pomerania« Andrea Camilleri: »La regina di Pomerania« bei Amazon , 2012 bei Sellerio erschienen und jetzt in Annette Kopetzkis Übersetzung von Nagel & Kimche auf Deutsch herausgebracht. Ihre Helden und Antihelden re­präsentieren alle Schichten der sizilianischen Bevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und wie üblich leben sie in den Städtchen Vi­ga­ta, Montelusa und Umgebung, einem fiktionalen Kosmos im Süden Sizili­ens, dessen piazze und palazzi, Dör­fer und Bauernhöfe, Felder und Gärten, Hügel und Strände Andrea Camilleri über viele Jahre ge­schaf­fen und reich bevölkert hat.

Die Titel gebende Geschichte trägt sich zu Neujahr 1900 zu. Auch in Sizilien sind die Menschen vom Hoch­ge­fühl beflügelt, dass die allseits sichtbaren Fortschritte der Wissenschaften ein glorioses neues Jahr­hun­dert »des Friedens und Wohlstands« bringen werden. Wurden in den Städten nicht schon ganze Stra­ßen­züge elektrisch beleuchtet? Gab es nicht schon Kutschen, die – ohne Pferde! – dreißig Kilometer in einer Stunde überwinden konnten? Bald sollte eine Maschine den Menschen gar durch die Luft fliegen las­sen können ... In Vigata soll ein Maskenball die große Zukunft eröffnen. Wie bei Shakespeare kommt es bei der Party zu heiß auflodernden Leidenschaften, Herzeleid, klammheimlichen Treffen, Prügeleien, Täu­schungs­ma­nö­vern und Verwechslungen, aber die cleveren Liebenden aus zwei rivalisierenden Familien er­sparen sich den tragischen Tod: Eine Entführung bringt den rettenden Ausweg ...

Ordentlich über den Tisch gezogen werden die vermeintlich schlauen Bürger von Vigata in »Die Königin von Pommern«, der Titelgeschichte der italienischen Originalausgabe. Niemand hier weiß Genaues über jenes ferne Königreich an der Ostsee; »Fisch, Stahl und Hunde« soll es exportieren. Aber als sich dessen Honorarkonsul nebst Gemahlin bei Bürgermeister Ersilio Buttafoco vorstellt, fühlt man sich höchst geehrt. Wenn einer Marchese Carlo Alberto Squillace del Faìto heißt, lässt man sich nicht lumpen und richtet dem edlen Paar eine adäquate Villa zur Repräsentation seines (unbekannten) Landes ein. Der Konsul zeigt sich mit einem attraktiven Angebot erkenntlich: Eigentlich sind Pommerns edle Gesellschaftshunde vom Typ Spitz ja mit einem Ausfuhrverbot belegt, aber für Vigata könnte er eine Ausnahme erwirken. Da bekom­men die Honoratioren und Kaufleute leuchtende Augen; dem baldigen Rassehundmonopol von Vigata werden sich in der Zukunft »Bombengeschäfte« mit Salz, Schwefel, Kali, Mandeln, Kichererbsen und Bohnen an­schlie­ßen. Das Schönste an alldem ist, dass der Herr Konsul »als Adliger von Geschäften rein gar nichts ver­stand« – Vigatas Elite wird ihn locker über den Tisch ziehen können!

Die raffinierte Posse um blinde Naivität und einen zielstrebigen Betrüger, der mit seiner Hoch- und Tief­stapelei so richtig abräumt, ist ein köstliches Meisterstück Camilleris, um bürgerlichen Dünkel schadenfroh bloßzustellen. (Wie bei Romeo und Julia spielt er auch hier souverän mit einer großen literarischen Tradi­tion.)

Ganz andere Töne – zwischen pikant und deftig – schlägt der Autor in der letzten Erzählung »Vater unbe­kannt« an. Amalia ist das einzige Kind bitterarmer Feldarbeiter. Aber sie ist so liebreizend, dass sie sogar Don Americo Mastrogiovanni erweicht, als sie in der lebenden Krippe des Weihnachtsabends die Mutter­gottes gibt. Der gewissenlose Gauner, der mit seinen Wucherzinsen ganze Familien in den Ruin getrieben hat, kniet nieder, bittet die heilige Jungfrau um Vergebung und wirft dem Mädchen einen Packen Geld­scheine zu. Da hat zwar die materielle Not der Familie ein Ende, nicht jedoch ihr Unglück. Bei einem Un­wetter kommen die Eltern ums Leben, und Amalia gerät in die Abhängigkeit des Onkels Duardo. Der beu­tet die attraktive Fünfzehnjährige in jeder Hinsicht aus, bis er selbst am Ende ist und alles Vermögen als Spiel­schul­den einem Bankkassierer überschreiben muss. Nach Onkel Duardos Tod muss die Waise dem Mann auch noch ihr Haus abgeben und ist wieder mittellos wie als Kind. Doch jetzt ist sie eine junge Frau, ver­stän­dig und praktisch erfahren im Umgang mit den Männern. Als der Kassierer ein Bündel Geld in einer Schublade deponiert, weiß sie das Angebot zu deuten, und eine beachtliche Laufbahn nimmt ihren Anfang. Am Ende der Geschichte kehrt ein junger Mann nach Vigata zurück, und alle Männer der Stadt werden unruhig ...

So haben alle Geschichten einen Clou. Camilleri, ein alter Theaterhase mit sicherem Gespür für Dynamik und Tempi, Volten und Pointen, bringt seine Erzählungen strukturell stets auf den Punkt, vermittelt aber auch zwischen den menschlich-moralischen Abgründen und Untiefen. Er schaut den Menschen in die Seele, weiß um ihre Nöte, erkennt die Schwächen und Stärken ihres Charakters, ist ein messerscharfer Analyst und spitzzüngiger Kritiker der Gesellschaft, aber kein Hetzer oder Spalter. Deshalb kann »Vater unbekannt« mit einem wunderbaren Schluss enden, der die Männerwelt entlarvt, und trotzdem lässt uns Camilleris Kunst verständnisvoll und milde auf sie und Amalia schauen. Wenn sie Glück haben, reifen die Menschen selbst zur Vernunft, wie die beiden Eisverkäufer (»Die Duellanten«), die nach Jahren bitterer Rivalität zu einem weisen Friedensschluss finden.

»Romeo und Julia in Vigata«: wunderbare, tiefgründige, charmante Geschichten voller Ironie – beste Unterhaltung.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2015 aufgenommen.


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