Rezension zu »Streng vertraulich« von Andrea Camilleri

Streng vertraulich

von


Belletristik · Nagel & Kimche · · 263 S. · ISBN 9783312004683
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Sizilien

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.
Gebundene Ausgabe Taschenbuch E-Book

Gegen Dummheit ist kein Kraut gewachsen

Rezension vom 26.02.2011 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

1929 - Im beschaulichen sizilianischen Vigàta soll in den nächsten Tagen ein junger Mann eintreffen. Er möchte an der Bergbauschule studieren und mit Diplom abschließen. Schon vor seiner Ankunft laufen sämtliche Drähte heiß. Das Außenministerium schickt am 20. August einen Brief mit näheren Informationen über den zukünftigen Schüler an den Rektor der Schule: Es handelt sich um einen Neffen von Haile Selassie, dem Negus Negesti, König der Könige und Kaiser von Äthiopien. Er steht unter dem besonderen Schutz von Seiner Exzellenz Benito Mussolini, der schon im Vorfeld alle möglichen Probleme im Zusammentreffen mit der treuen faschistischen Bevölkerung abklären möchte - denn der edle Prinz ist ja schließlich ein Neger. Jegliche Konfrontation muss unterbunden werden. Das Ministerium übernimmt sämtliche Kosten.

Damit besitzt der Prinz einen Freifahrtschein und Narrenfreiheit, die er zur Genüge nutzen wird. Es wird kein Tag vergehen, an dem er nicht für Scherereien sorgt. Kaum angekommen, in zerlumpter Kleidung, ein Kissenbezug über den Schultern, sucht er als erstes das Freudenhaus auf. Die Entlohnung dreier Damen muss der Brigadiere vorstrecken, denn leider wurde der Prinz im Zug von Palermo nach Vigàta restlos ausgeraubt. Dass sich der vorgebliche Überfall später als Lüge herausstellt und der Prinz sein Geld beim Kartenspiel mit drei Bauern verzockt hatte, muss geheim bleiben. Man findet eine Lösung und sperrt zwei Landstreicher, die sich schuldig bekennen, eine Woche ins Gefängnis - bei freier Kost und Logis.

Ein afrikanischer Untermensch führt also alle an der Nase herum, spielt sie gegeneinander aus und bereichert sich durch ständige Forderungen, um das standesgemäße Leben eines Prinzen führen zu können. Er weiß, dass Benito Mussolini ihn für seine diplomatischen Ziele nutzen will: Er soll Schützenhilfe leisten, wenn der Duce die Grenze zwischen Somalia und Äthiopien befestigen und seine Expansionspläne vorantreiben möchte. In diesem Sinne lässt Mussolini das Außenministerium anordnen, der Prinz möge in einem Brief an seinen Onkel ein Loblied auf das faschistische Italien singen und nach Rom kommen.

Aber man hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht - der Prinz lässt sich nicht so einfach dirigieren. Nach Rom will er nicht, man könne sich auch in Vigàta treffen, und ihm einen Brief zu diktieren koste ein paar tausend Lire.

Damit ist er freilich zu weit gegangen. Dem Duce macht ein Neger doch keine Vorschriften. Als Ausweg schlägt der Präfekt von Montelusa einen höheren Preis vor und modifiziert die Pläne, so dass sowohl das Außenministerium als auch der Prinz zustimmen und das Gesicht wahren können.

Doch wieder vereiteln unvorhergesehene Zwischenfälle die Kooperation. Im Club der Adligen nimmt der dunkle Prinz nämlich just auf dem Stuhl Platz, der auf ewig für Seine Majestät König Vittorio Emanuele III. reserviert ist, seit dieser einmal auf Stippvisite hier vorbeischaute. Die unverschämte Begründung ("Mein Arsch steht dem eures Königs in nichts nach." Seite 231) zieht ein unausweichliches Duell nach sich, in dem sich der Prinz die rechte Hand verletzt. Vorerst kann er keinen Brief schreiben, und die Folgekosten wegen der eingeschränkten Nutzbarkeit der prinzlichen Hand sind kaum zu bezahlen. Im Namen des Duce darf die Gemeinde Vigàta finanzielle Anschubhilfe leisten.

Schließlich reist der "Scheißneger", wie ihn der Föderationssekretär betitelt (Seite 139), doch noch ab nach Rom - zwar per Zug statt im vorgeschlagenen Wasserflugzeug, dafür aber in seinem Gepäck die anständig erarbeitete Summe von 75.000 Lire, in seiner Begleitung die hässliche, negerbraune Michilina und hinter sich eine Schneise des Aufruhrs in Vigàta ob all der Bordellbesuche, der Liebesbeziehungen zu Männlein und Mägdlein, der Selbstmordversuche der Betrogenen, des finanziellen Ärgers mit der Banca di Italia usw. ...

Als die Geheimdienstler in Rom seinen Brief öffnen, lesen sie, was er von seinen Gastgebern, die er weidlich ausgenutzt hat, denkt: "Sie sind dumm wie Esel, halten sich aber für schlau wie ein Fuchs." (S. 252)

Tatsächlich besuchte in den Jahren 1929-32 Prinz Brhane Selassie, Neffe Haile Selassies, die Königliche Bergbauschule in Caltanisetta und erwarb sein Diplom. Alles andere aber ist Fiktion. Nur Andrea Camilleri beherrscht es, aus diesem kleinen Ereignis ein Possenspiel, ein entlarvendes Kabinettstück zu kreieren.

Die Umsetzung (Originaltitel: "Il nipote del Negus") ist einmalig. Camilleri wählt nicht die übliche Romanform, sondern wir erfahren das Geschehen in steifer Amtssprache aus formal korrekt verfassten Dienstanweisungen im Auftrag des Duce, aus Erwiderungen mit vorsichtig vorgetragenen Bedenken, aus Protokollen, aus Schreiben, die streng vertraulich bleiben sollen, aus Dialogen, die ohne einleitende Sprecherangabe und Verb auskommen, aus aktuellen Zeitungsausschnitten, aus Telefongesprächen und gegen Ende - bei zunehmender Dringlichkeit - aus Telegrammen.

Köstlich, wie Camilleri die sich aufplusternden Beamten blamiert und deklassiert. Selbst der einfachste Amtmann gehorcht devot und pflichterfüllt, vertuscht und schiebt anderen die Schuld zu, wenn etwas schiefgeht. Dass das faschistische Italien ausgerechnet von einem verachteten Schwarzen vorgeführt wird, ist das i-Tüpfelchen dieser Groteske. Der schlitzohrige Neger ist der einzig Clevere - alle anderen Figuren sind an Dummheit kaum zu überbieten. Blind folgen sie ihrer Devise: Glauben, Gehorchen, Kämpfen. Viva il Duce!


Weitere Artikel zu Büchern von Andrea Camilleri bei Bücher Rezensionen:

Rezension zu »»Salvo amato ...« »Livia mia ...««

go

Rezension zu »Übersicht Filmserie Il Commissario Montalbano«

go

Rezension zu »Übersicht Filmserie Il giovane Montalbano«

go

Rezension zu »Übersicht Montalbano – die Kriminalromane und Kurzgeschichten«

go

Rezension zu »Capodanno | Silvester«

go

Rezension zu »Come voleva la prassi«

go

Rezension zu »Das Bild der Pyramide: Commissario Montalbano blickt hinter die Fassaden«

go

Rezension zu »Das Ende des Fadens«

go

Rezension zu »Das graue Kleid«

go

Rezension zu »Das Karussell der Verwechslungen: Commissario Montalbano lässt sich nicht beirren.«

go

Rezension zu »Das Labyrinth der Spiegel«

go

Rezension zu »Das Lächeln der Signorina«

go

Rezension zu »Das Nest der Schlangen«

go

Rezension zu »Das Netz der großen Fische«

go

Rezension zu »Das Ritual der Rache«

go

Rezension zu »Das Spiel des Patriarchen | La gita a Tindari«

go

Rezension zu »Der Bahnwärter«

go

Rezension zu »Der ehrliche Dieb«

go

Rezension zu »Der Hirtenjunge«

go

Rezension zu »Der Kater und der Distelfink | Il gatto e il cardellino«

go

Rezension zu »Der Tanz der Möwe«

go

Rezension zu »Die Botschaft der verborgenen Bilder«

go

Rezension zu »Die Frau aus dem Meer«

go

Rezension zu »Die Münze von Akragas«

go

Rezension zu »Die Revolution des Mondes«

go

Rezension zu »Die Sekte der Engel«

go

Rezension zu »Die Spur des Fuchses | La pista di sabbia«

go

Rezension zu »Die Spur des Lichts«

go

Rezension zu »Die Tage des Zweifels«

go

Rezension zu »Die Verlockung«

go

Rezension zu »Ein Samstag unter Freunden«

go

Rezension zu »Ein tiefer Blick in die Seele«

go

Rezension zu »Eine Stimme in der Nacht«

go

Rezension zu »Ferito a morte | Ein teuflischer Plan«

go

Rezension zu »Il casellante«

go

Rezension zu »Il cuoco dell’Alcyon«

go

Rezension zu »Il gioco degli specchi«

go

Rezension zu »Il metodo Catalanotti«

go

Rezension zu »Il sonaglio«

go

Rezension zu »Il sorriso di Angelica«

go

Rezension zu »Il terzo segreto | Das dritte Geheimnis«

go

Rezension zu »L'altro capo del filo«

go

Rezension zu »La giostra degli scambi«

go

Rezension zu »La piramide di fango«

go

Rezension zu »La prima indagine di Montalbano | Montalbanos erster Fall«

go

Rezension zu »La rete di protezione«

go

Rezension zu »La setta degli angeli«

go

Rezension zu »Maruzza Musumeci«

go

Rezension zu »Morte in mare aperto e altre indagini del giovane Montalbano«

go

Rezension zu »Riccardino«

go

Rezension zu »Ritorno alle origini | San Calorio«

go

Rezension zu »Romeo und Julia in Vigata«

go

Rezension zu »Sette lunedì | Sieben Montage«

go

Rezension zu »Un covo di vipere«

go

Rezension zu »Un sabato, con gli amici«

go

Rezension zu »Una lama di luce«

go

Rezension zu »Una voce di notte«

go

Weitere Artikel zu Büchern aus der Region Sizilien bei Bücher Rezensionen:

Rezension zu »Andrea Camilleris sizilianische Küche: Die kulinarischen Leidenschaften des Commissario Montalbano«

go

Rezension zu »Angelica e le comete«

go

Rezension zu »Anna«

go

Rezension zu »Anna«

go

Rezension zu »Übersicht Montalbano – die Kriminalromane und Kurzgeschichten«

go

Rezension zu »Das Bild der Pyramide: Commissario Montalbano blickt hinter die Fassaden«

go

Rezension zu »Das Ende des Fadens«

go

Rezension zu »Das graue Kleid«

go

Rezension zu »Das Karussell der Verwechslungen: Commissario Montalbano lässt sich nicht beirren.«

go

Rezension zu »Das Meer am Morgen«

go

Rezension zu »Das Netz der großen Fische«

go

Rezension zu »Der Bahnwärter«

go

Rezension zu »Der Hirtenjunge«

go

Rezension zu »Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand«

go

Rezension zu »Di niente e di nessuno«

go

Rezension zu »Die Botschaft der verborgenen Bilder«

go

Rezension zu »Die Frau aus dem Meer«

go

Rezension zu »Die Münze von Akragas«

go

Rezension zu »Die Revolution des Mondes«

go

Rezension zu »Die Sekte der Engel«

go

Rezension zu »Die stumme Herzogin | La lunga vita di Marianna Ucrìa«

go

Rezension zu »Ein tiefer Blick in die Seele«

go

Rezension zu »Es war der Sohn«

go

Rezension zu »I leoni di Sicilia«

go

Rezension zu »Il casellante«

go

Rezension zu »Il sonaglio«

go

Rezension zu »Io non ci volevo venire«

go

Rezension zu »La logica della lampara«

go

Rezension zu »La monaca«

go

Rezension zu »La setta degli angeli«

go

Rezension zu »La zia Marchesa«

go

Rezension zu »Liparische Inseln«

go

Rezension zu »Mamas wunderbares Herz | Il Michelangelo«

go

Rezension zu »Maruzza Musumeci«

go

Rezension zu »Repertorio dei pazzi della città di Palermo«

go

Rezension zu »Romeo und Julia in Vigata«

go

Rezension zu »Sicilia, o cara – un viaggio sentimentale«

go

Rezension zu »Stella o croce«

go

War dieser Artikel hilfreich für Sie?

Ja Nein

Hinweis zum Datenschutz:
Um Verfälschungen durch Mehrfach-Klicks und automatische Webcrawler zu verhindern, wird Ihr Klick nicht sofort berücksichtigt, sondern erst nach Freischaltung. Zu diesem Zweck speichern wir Ihre IP und Ihr Votum unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Ja« oder »Nein« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.

»Streng vertraulich« von Andrea Camilleri
erhalten Sie im örtlichen Buchhandel oder bei Amazon als
Gebundene Ausgabe Taschenbuch E-Book


Kommentare

Zu »Streng vertraulich« von Andrea Camilleri wurde noch kein Kommentar verfasst.

Schreiben Sie hier den ersten Kommentar:
Ihre E-Mail wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Ihre Homepage wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Hinweis zum Datenschutz:
Um Missbrauch (Spam, Hetze etc.) zu verhindern, speichern wir Ihre IP und Ihre obigen Eingaben, sobald Sie sie absenden. Sie erhalten dann umgehend eine E-Mail mit einem Freischaltlink, mit dem Sie Ihren Kommentar veröffentlichen.
Die Speicherung Ihrer Daten geschieht unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Senden« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.


Go to Top