Rezension zu »Der Bahnwärter« von Andrea Camilleri

Der Bahnwärter

von


Belletristik · Kindler · · 153 S. · ISBN 9783463405766
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Sizilien

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Auf dass der Baum Früchte trage

Rezension vom 21.04.2012 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

So mancher Tourist, der in Italien reist, erträumt sich hier und da, wie schön es wäre, ein kleines Häuschen auf dem Lande zu erwerben und dort fortan dem dolce vita zu frönen - fernab von Hi-Tech und unnötigem Luxus. Den Einheimischen in den Städten geht es nicht anders. Und auch Andrea Camilleri nimmt dieses Konzept einer Idylle zum Anlass für eine kleine Erzählung. Auf dem rückwärtigen Cover reflektiert er seine eigene Variante: ein Bahnwärterhäuschen kaufen, ein kleines Gärtchen anlegen, sich der Ruhe hingeben, begleitet vom Tirilieren der Vögel und nur unterbrochen vom gelegentlichen Schnaufen eines vorbeizockelnden Kleinbahnzuges ...

Solchermaßen auf Sizilien-Sehnsucht und Romantik eingestimmt, nahm ich das Büchlein zur Hand, in Erwartung einer zarten, poetischen Handlung.

Die verspricht der Anfang denn auch. Camilleri fährt mit uns auf der Schmalspurstrecke von Vigàta nach Castellovitrano an der Küste Siziliens entlang. Eine Dampflok zieht Waggons der 1. und 3. Klasse. Es geht an drei Bahnwärterhäuschen vorbei, angesichts derer er uns anschaulich deren typische Bauart erläutert. Doch dann ändert sich die Stimmung rasch.

Die Faschisten sind an der Macht. Sie verstaatlichen die Privatbahnen, und viele Arbeitsplätze wechseln den Besitzer - Bahnwärter zum Beispiel wird jetzt, wer sich um die Partei verdient gemacht hat.

Im März 1942 beziehen Nino und seine liebenswerte, fürsorgliche Frau Minica ein Bahnwärterhäuschen bei Vigàta - obwohl Nino kein Faschist ist. Aber seine Aufgaben erfüllt er pflichtgemäß und versorgt Mussolinis Soldaten, die die Bunkeranlagen der Fliegerabwehr entlang der Küste bauen, mit klarem Brunnenwasser. Das Glück des trauten Paares wäre vollkommen, wenn nicht immer wieder die Bombardements der Alliierten ihre Idylle bedrohten - und wenn doch noch ihr Kinderwunsch in Erfüllung ginge. Ein "Kräuterweiblein" - ganz entgegen der Begrifflichkeit eine hübsche, elegante Dame - hilft mit einer Pomade aus ...

Abends ist Nino häufig unterwegs, um mit Freund Totò im Duo zu musizieren. Die jetzt angesagten Revolutionslieder interpretieren sie als Tanzmusik, wofür sie kurzzeitig im Gefängnis büßen müssen: Provoziert, beleidigt, die Hymne verunglimpft hätten sie ...

All dies wird unversehens belanglos, als ein Mann mit absonderlichen Neigungen Minica vergewaltigt, misshandelt, fast zu Tode prügelt. Sie muss im Krankenhaus operiert und wochenlang gepflegt werden, aber richtig gesund wird sie nie mehr.

Liebevoll und verzweifelt zugleich nimmt sich Nino seiner Frau an, die, jetzt geistig verwirrt, jegliche Nahrung verweigert. Ständig buddelt sie sich mit den Füßen in den Boden ein, will hier draußen Wurzeln schlagen, ein Baum mit starken Ästen werden. Nino soll sie umpflanzen, veredeln, wässern, düngen, damit sie Früchte tragen kann. Alles vergeblich: Es wollen sich keine Mispeln bilden. Kaum noch des Sprechens mächtig, wünscht sich Minica, gefällt zu werden. Doch bevor Nino zur Axt greift, geschieht ein Wunder ...

Die schöne Symbolik der zum Scheitern verurteilten Metamorphose zum erblühenden und Früchte tragenden Baum ist der Kern der hintergründigen, tiefgreifenden Parabel über die Verwandlung einer Frau, der man die Fruchtbarkeit genommen und die man damit zerstört hat. Diesen mystischen Textteil gestaltet Camilleri grauenerregend. Klapperdürr ist Minica; sie stützt sich auf Pfähle, die Nino dicht um sie herum eingehauen hat, damit sie im Stehen schlafen kann ...

Daneben lässt Camilleri Sizilien zur heftigsten Kriegszeit aufleben. Sein (fiktionales) Vigàta wird in Angst und Schrecken versetzt und von Bombenangriffen fast völlig zerstört. Denunzianten und Verbrecher betreiben ihr Handwerk verstärkt, die Carabinieri umso weniger. Unumschränkter Lenker der Geschicke ist Don Simone, der Padrone. Vor ihm bleibt nichts geheim, er weiß alles über die Gemeinschaft und über die politischen Entwicklungen der Vergangenheit wie der Zukunft. Er kennt nicht nur Minicas Schänder, sondern flüstert dessen Namen Nino ins Ohr, als der verzweifelt an der Mole sitzt, - und liefert ihm gleich einen perfekt durchdachten Plan dazu ...

Immer wieder faszinieren mich Vielseitigkeit und Einfallsreichtum des Autors. Wenngleich er einen unverkennbaren Stil pflegt und seinen sympathischen Werten treu bleibt, ist doch jede seiner zahlreichen Erzählungen einzigartig. Auch "Der Bahnwärter" (im Original "Il casellante", 2008, Übersetzung von Moshe Kahn) ist unverwechselbar Camilleri pur - und doch wieder anders.

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