Der rasende Salvo
Als Salvo Montalbano einst in Vigàta die Schulbank drückte, besprach man in seinen Italienischstunden auch Ludovico Ariostos Versepos von ca. 1516, "Orlando furioso", den "Rasenden Roland". Eine Begebenheit darin hat den Sechzehnjährigen besonders beeindruckt: Als Roland am Hofe seines Onkels die bezaubernde chinesische Prinzessin Angelica erblickt, raubt ihm seine augenblickliche Liebe buchstäblich den Verstand.
Den gereiften commissario, inzwischen 58, trifft gerade so der Blitz, als ihm Angelica Cosulich begegnet, eine Bankangestellte aus dem Norden, die zu den Opfern einer eigenartigen Serie von Einbrüchen gehört. Eine Bande räumt nämlich systematisch die Wohnungen wohlhabender Mitbürger leer - auf immer gleiche Weise: "architettati geometricamente, secondo uno schema d'ordine di pedante e accanita astuzia".
Wie sich ihm die etwa dreißigjährige Angelica darbietet - umwerfend schön, voll sinnlicher Vitalität, dazu mit einem Bannstrahl in den Augen, dem sich niemand mehr entziehen kann -, so hat Montalbano sich die Prinzessin damals ausgemalt. Sein Alter bewahrt ihn nicht davor, ihr zu verfallen, und dass seine Dauerverlobte Livia im Schlaf Dinge spricht, die in ihm einen schrecklichen Verdacht nähren, nimmt ihm jegliche Skrupel: Er lässt sich gern auf eine leidenschaftliche Affäre ein ...
In diesem Zustand zwischen Torschlusspanik, rasender Eifersucht, wilder Begierde und nostalgischem Erinnern an jugendliche Phantasien kehren literarische Vorlagen in seinen Sinn zurück; neben Ariost rezitiert er auswendig die "Adolescente" von Vincenzo Cardarelli (1887-1959), und das ist reines Kerosin für sein emotionales Feuer: "un pescatore di spugne, / avrà questa perla rara." (Das ganze Gedicht ist lesenswert; weitere Auszüge: "La vertigine mi si porta via [...] E penso come il tuo corpo ... / fa disperare l'amore / nel cuor dell'uomo! [...] Qualcuno che non lo saprà, / un pescatore di spugne, / avrà questa perla rara. [...] Così la fanciullezza / fa ruzzolare il mondo, / e il saggio non è che un fanciullo / che si duole di essere cresciuto.")
Neben seinen privaten Irrungen und Wirrungen beschäftigen den commissario natürlich auch die beruflich bedingten: Hinter der ausgefuchsten Einbruchsserie steckt ein mysteriöser "Zeta", der Montalbano kühn herausfordert - und natürlich verliert. Dabei assistieren ihm seine bewährten Mitarbeiter, insbesondere Fazio, der auch versteht, was mit seinem Chef vor sich geht, und ihm bis über den Rand der Legalität hinaus zur Seite steht ...
Nicht nur dem commissario, sondern auch uns Lesern entgeht nicht, dass Salvo altert, und das gilt auch für Camilleri und sein Verhältnis zu seinem Protagonisten. Die Themen wiederholen sich - Salvos immer wieder stolpernde und doch wieder festen Grund findende Fernbeziehung zu Livia, seine Faszination für schöne junge Frauen, seine unvermittelt wechselnden Stimmungen zwischen Ausbrüchen von Jähzorn und zärtlicher Zuneigung - wie manches Detail der Kriminalfälle, die durchaus verzwickt sind und Überraschungen bergen, aber niemals Thriller sind ... Und doch hat hier ein genialer Autor einen Charakter geschaffen, der seit Jahrzehnten eine Romanreihe erfolgreich und überzeugend "trägt", der sich entwickelt und sich doch in seinen Grundzügen treu bleibt, den wir wiedererkennen wie einen alten Freund, auch wenn er sich gewandelt hat. So ist auch das Lesen von "Il sorriso di Angelica" pures Vergnügen, wie der Besuch in einem guten Restaurant, auf dessen genussvolles Essen man sich verlassen kann und immer wieder freut.
Und der sizilianische Dialekt, ein weiteres Markenzeichen Camilleris? Keine Angst: Springen Sie einfach ins kalte Wasser, schwimmen Sie los, schlagen Sie bloß nicht jedes Wort im Wörterbuch nach, und verlassen Sie sich auf Ihr Gespür, wenn Sie den Sinn im Kontext erahnen - auch Italiener werden bisweilen solchen Mut zur Lücke aufbringen müssen. Hier zur Einstimmung ein Pröbchen:
Comportarisi con quella picciotta come un 'nnamurato di sidici anni! 'Na cosa era spasimari a sidici anni davanti al disigno di una fìmmina, e 'n'altra cosa è mittirisi a fari il cretino con una picciotta 'n carni e ossa. Aviva fatto confusioni tra il sogno di picciotto e la realtà di uno squasi sissantino.