Salvo Montalbano am Wendepunkt
Gestern früh um 7.15 Uhr verstarb Salvo Montalbano. Da liegt er im offenen Sarg, aufgebahrt auf seinem Schreibtisch, und alle, die ihm nahestanden, sind anwesend: die Kollegen Fazio, Catarella, Mimì, der Pathologe Dr. Pasquano, der Polizeipräsident Bonetti-Alderighi - aber ausgerechnet Livia, die Dauerverlobte des Dahingeschiedenen, fehlt.
Woran ist er gestorben? Dr. Pasquano rückt, wie üblich, nichts heraus, ehe er die Autopsie abgeschlossen hat, und Bonetti-Alderighi verbietet dem commissario sogar rundheraus, seinen eigenen Todesfall aufzuklären - wegen Befangenheit. Und Livia? Erst druckst sie herum, dass sie es zum Begräbnis nicht rechtzeitig schaffen wird, dann lässt sie die Katze aus dem Sack: Jetzt ist sie ja wohl endlich frei. Und das sagt sie Salvo ganz unverblümt am Telefon, als der sie anruft ...
Ein gewaltiger Donnerschlag befreit Salvo aus seinem Sarg und seinem düsteren Albtraum. Das Meer tobt, der Himmel hat seine Schleusen weit geöffnet. Als der commissario zum Büro nach Vigàta fahren will, kommt er nicht weit, denn ein Straßenstück ist weggespült. Aus dem Auto am Kraterrand rettet er eine etwa Dreißigjährige mit dicker Brille, Vanna Digiulio. Die Frau - rundum unattraktiv, wie ihm auffällt - ist unterwegs, um ihre Tante zu treffen, eine steinreiche Witwe, deren 26-Meter-Segelyacht Vanna am Nachmittag in den Hafen von Marinella einläuft.
Dorthin wird auch Montalbano gerufen, denn die Mannschaft der Vanna hat am Hafeneingang ein Schlauchboot aufgenommen, in dem sich die Leiche eines Mannes fand. Erst war er vergiftet, dann sein Gesicht zerschmettert worden; seine Fingerabdrücke sind unbekannt - was hat es mit diesem Toten auf sich?
Bald muss der Kommissar erkennen, dass er bei Vanna Digiulio einer perfekten Show auf den Leim gegangen ist. Obwohl die exaltierte Eignerin der Vanna wie auch ihr Kapitän Sperlì sie zu kennen scheinen, ist sie weder Nichte der signora noch harmlose Studentin, wie sie vorgab. Vielmehr benutzt sie die Identität einer militärischen Agentin, die vor Jahren in Afghanistan umkam, und hat für den commissario noch eine ganze Reihe raffinierter Spuren gelegt.
Der Mordfall um das blasshäutige Opfer im Schlauchboot erweitert und verkompliziert sich, wobei die Yachtbesitzerin und ihre merkwürdige fünfköpfige Mannschaft Montalbanos Interesse ebenso stark auf sich ziehen wie die Asso di cuori ("Herz-As"), eine Luxus-Motoryacht, die neben der Vanna ankert und keine Zufallsbekanntschaft zu sein scheint. Beide Schiffe vagabundieren seit Jahren kreuz und quer über alle Weltmeere - nur zum Vergnügen ihrer Besitzer? Der Nordafrikaner Ahmed Chaikri, einer der Vanna-Männer, wird getötet, eine Anti-Terror-Einheit mischt mit - da sind reichlich Geheimnisse aufzuklären.
Salvos Albtraum eröffnet gleich zu Beginn des Romans die zweite Ebene, die persönliche des commissario. Wenngleich er sein berufliches Ethos, seinen Gerechtigkeitssinn, sein Mitgefühl für die Schwachen über die Jahre bewahren konnte, ist er doch auch ermüdet und desillusioniert. Nicht nur der Zustand der Gesellschaft, Egoismen, Bürokratie und Hierarchien verbittern ihn, sondern auch sein eigenes Schicksal beunruhigt ihn: Das Alter macht sich bemerkbar (er ist jetzt 58), und die Beziehung zu Livia im weit entfernten Boccadasse bei Genua zieht sich unentschieden dahin, geografisch wie emotional anstrengend ...
Doch ein weiterer Donnerschlag (diesmal rein symbolisch) fegt die trübsinnigen Anwandlungen unter den Teppich: Als er in der Hafenmeisterei Leutnant Laura Belladonna kennenlernt, ist er hin und weg, nicht nur wegen ihres hinreißenden Äußeren, sondern auch, weil sie "eine ungeheuer sympathische Ausstrahlung" hat. Während die beiden gemeinsam an der Lösung des Falls arbeiten, verliert er mehr und mehr seinen Kopf. Unerwarteterweise erwidert Laura seine Zuneigung, und Salvo kann sein Glück kaum fassen. Laura - heiter, attraktiv, kompetent, mutig - das ist eine Frau, die sein Leben verändern könnte. "Schluss mit allen Zweifeln, Schluss mit dem schlechten Gewissen, Schluss mit der Vernunft!" Aber es ist ein "Glück, das ihn aufleben ließ und zugleich mit Angst erfüllte." Dann plagen ihn Zweifel, und selbstkritisch und schonungslos wie selten zuvor prüft er an diesem möglichen Wendepunkt, wie es um ihn steht und was es ist, das ihn mit Laura über die Kluft von fünfunddreißig Lebensjahren hinweg verbindet: Liebe? Begehren? Eitelkeit? Ist sie sein Rettungsanker vor dem Altern? Er wird existentielle Entscheidungen treffen müssen - "klare und endgültige".
In diese Bredouille hat ihn natürlich sein Autor manövriert. Der aber biegt den Plot dann - leider, wie ich finde - so hin, dass seinem Ziehsohn die letzte Konsequenz erspart bleibt, weil andere sein Problem "lösen". Wieder schafft Salvo keine klaren Verhältnisse. Er wird weiter leiden müssen, und wer weiß, was Camilleri für seinen Salvo und dessen Livia noch im Schilde führt; immerhin sind noch acht weitere Montalbano-Romane in der Pipeline - siehe Übersicht über alle Montalbano-Kriminalromane.
Wie jeder Montalbano-Krimi enthält auch dieser bewährte und anregende Ingredienzien: Salvos köstliche Speisen (die Rezepte finden Sie hier), literarische Referenzen (Laura B. erinnert an Petrarcas Angebetete: "... onde sì bella donna al mondo nacque" (Sonett IV aus dem "Canzoniere"-Zyklus); Paolo Giordano: "Die Einsamkeit der Primzahlen"; Vittorio Alfieri; Umberto Saba; Elio Vittorini; Georges Simenon), stilistische Bonbons wie die auch aus etlichen Romantiteln bekannten Synästhesien ("ihr Lachen klang, als tanzten Perlen über den Boden", Gerüche des Leidens usw.) und spritzige Dialogscharmützel mit dottor Pasquano und questore Bonetti-Alderighi. Überzogen sind dagegen die albernen Spielchen, die Montalbano mit dottor Lattes, Bonetti-Alderighis Kabinettschef, treibt. Der fulminante Schluss stimmt - wie so oft - nachdenklich, ist aber hier nicht nur melancholisch, sondern bitter: Der Kommissar wird zum tragischen Pyrrhus-Helden.
Mehr als andere Meisterdetektive aus Literatur und Film nimmt man Salvo Montalbano mit der Zeit wie einen vertrauten Freund wahr. Sein Charakter ist ungeschönt, vielschichtig, widersprüchlich; man kennt seine Schwächen, versteht sie, sieht sie ihm nach. Die gerade für diesen Roman bestimmende Ebene der Selbstzweifel wird in der Filmversion übrigens nicht verbalisiert; nur in Luca Zingarettis großartigem Mienenspiel kann der Leser des Buches sie wiederfinden.
"L'età del dubbio" (2008) wurde von Rita Seuß und Walter Kögler übersetzt und ist der vierzehnte der Montalbano-Romane von Andrea Camilleri.