Rezension zu »Das Ritual der Rache« von Andrea Camilleri

Das Ritual der Rache

von


Kriminalroman · Teil der Serie »Il commissario Montalbano« · Bastei Lübbe · · 283 S. · ISBN 9783785724316
Sprache: de · Herkunft: it

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Irrungen und Wirrungen in Vigàta

Rezension vom 18.04.2012 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Commissario Salvo Montalbano spürt sein Alter immer mehr in seinen Knochen. Nicht nur seine Haare sind dünner geworden, sondern auch seine Haut: Er ist emotional nicht mehr im Gleichgewicht. Seine Stimmungen schwanken - bald brüllt er übellaunig, bald flucht er wütend, und bisweilen fällt er in me­lan­cho­li­sche Tiefs, wo es ihm das Wasser in die Augen treibt. Ist er langsam reif für den Ruhestand?

Ziemlich spät erst bemerkt er, dass sich auch die Atmosphäre in seinem Kommissariat in Vigàta verdüstert hat. Die Stimmung seiner Leute ist angespannter geworden. Vor allem Mimì Augello ist in letzter Zeit derart gereizt, dass schon ein Wort genügt, um einen bitteren Streit zu entfachen. Sogar den allzeit dienstbaren Catarella schreit er an, nur weil der es versäumt hatte, ein Telefonat durchzustellen. Als Montalbano sich bei Fazio erkundigen will, was denn los sei, erhält er auch von dem nur eine ungewohnt aggressive Abfuhr.

Und dann noch diese ständigen Anrufe von Livia, Salvos Dauer- und Fernbeziehung, die in Genua wohnt ... Ihre Busenfreundin Beba, Mimìs Ehefrau, beklage sich bei ihr schon seit Längerem darüber, dass Ihr Mimì kaum noch zu Hause sei wegen der fortwährenden nächtlichen Arbeitseinsätze, die Salvo ihm aufträgt ...

Doch Montalbano durchschaut schnell, was da los ist: Von wegen nächtliche Observierungen - Mimì hat wohl etwas anderes laufen ... Um den Frieden im Hause Augello nicht zu gefährden, jammert Salvo, dass in letzter Zeit ungewöhnlich viel passiert sei, verspricht Besserung und bittet Livia, auch Beba geduldig zu stimmen.

Zurück auf »Los«: Montalbano findet keine Ruhe in seinem Bett. Draußen über dem Meer tobt ein Gewitter, in seinem Kopf ein Albtraum: Mit Waffengewalt soll Montalbano in den Hubschrauber gezwungen und zur Regierungsbildung nach Rom geflogen werden; er soll das Amt des Innenministers übernehmen, denn die Mafia hat die Macht übernommen ... Salvo, der seine Gedanken gern in Selbstgesprächen oder Briefen an sich selbst klärt, sinniert vor sich hin: Hat dieses Hirngespinst etwas zu bedeuten?

Kaum erwacht und ein wenig beruhigt, wird Salvo erneut durch wüstes Klopfen an seine Tür aufgeschreckt. Catarella ist mit dem Jeep gekommen, um den Chef in unwegsames Gelände zu bringen, wo Fazio und Mimì ihn schon erwarten. Ein Landbesitzer hat auf einer Geröllhalde eine Leiche gefunden, der eine ganz besondere Behandlung zuteil geworden war. Erst wurde der Mann mit einem Genickschuss getötet, dann sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen und die Fingerkuppen verbrannt, und zu guter Letzt wurde er in 30 Teile zerstückelt. Diese rituelle Art der Hinrichtung verrät die Handschrift der Mafia; so rechnet sie mit einem Verräter ab, damit er nicht identifiziert werden kann. Dazu verhilft auch nicht die verschluckte Zahnbrücke, die man im Darm fand, denn sie muss in Südamerika hergestellt worden sein. Kurzum: Für Salvo ist das ein Fall für die Kollegen der Antimafiagruppe.

Doch ausgerechnet jetzt fordert Mimì in einem Brief an Salvo, dass er ihm den Fall übertragen solle. Er möchte endlich mehr Machtbefugnisse und mehr Freiraum - ansonsten bleibe ihm nichts anderes übrig, als um eine Versetzung zu bitten ...

Während Salvo noch hadert und seine Bedenken in einem Antwortbrief an Mimì formuliert, hat Camilleri längst einen weiteren Handlungsstrang entwickelt. Dolores Alfana, 30 Jahre alt und atemberaubend schön, eröffnet dem Commissario ihre große Sorge um Giovanni, ihren innig geliebten Mann, der, wie sie fürchtet, spurlos verschwunden ist. Zwar ist er als Offizier auf einem Containerschiff oft monatelang auf den Meeren unterwegs, doch im Gegensatz zu sonst hat Dolores jetzt schon lange nichts mehr von ihm gehört, und die Handschrift auf den letzten Postkarten war offenkundig gefälscht. Montalbano ziert sich, in einer Pri­vat­sache nachzuforschen - vielleicht ist der Mann ja nur auf Landgang in einem anderen Liebeshafen -, aber kann man einer so betörenden Dame eine Bitte abschlagen?

Was es mit Mimìs nächtlichen Überstunden auf sich hat, will Salvo natürlich auch erfahren. Ingrid, eine Vertraute, observiert heimlich und findet heraus, dass Mimì - noch nie ein Kostverächter - ein Liebesnest in einer leerstehenden Villa unterhält. Das Anwesen gehört einem Metzger aus Vigàta, der mit einer verheirateten Frau angebandelt hatte. Pech für ihn: Der gehörnte Ehemann Giovanni ist ein Fürsorgefall von Don Balduccio Sinagra, dem Mafia-Boss vor Ort. Der hatte einst Giovannis Vater als Verräter beseitigen lassen - fälschlicherweise, wie sich herausstellte. Um seine Schuld wiedergutzumachen, sorgte der Ehrenwerte für die Ausbildung des hinterbliebenen Sohnes - und schaffte nun, um Giovannis Ehe zu schützen, den Fleischermeister-Nebenbuhler aus dem Felde, indem er ihn - wer weiß wie ... - zu einem Umzug nach Catania bewog.

Wie Camilleri diese großen und kleinen Stränge stimmig miteinander verwebt, wie er jede Szene durch originelle Figuren, amüsante Dialoge und intelligente kleine Scharmützel lebendig gestaltet, wie er den Personen ebenso wie den Schauplätzen anschaulich das besondere Flair Siziliens einhaucht, wie er beim Lesen sogar unseren Gaumen kitzelt, indem er genüsslich die Zutaten der Speisen ausmalt - all das ist schlichtweg eine Wonne. Dazu gehören auch so kleine Gags wie der, dass Montalbano eines Abends einen Roman - »schon ein paar Jahre alt« - von Andrea Camilleri liest und interessante Aufschlüsse daraus erhält. So trifft der Autor in seinem Roman sich selbst an, ähnlich wie einst Hitchcock durch seine Filme huschte ...

Einen besonderen Reiz übt Camilleris Sprachstil aus. Vor allem Montalbano und Catarella leben und wirken durch die Art, wie sie mit Sprache umgehen: Für den einen ist sie ein souverän beherrschtes Werkzeug: Niemand kann so perfekt schmeicheln, sich herausreden, täuschen, andeuten, unterschieben, aber auch einschüchtern wie der Commissario ... Für den anderen ist Sprechen oft genug ein Hindernislauf: »Catarè« stolpert über Fremdwörter, verheddert sich in der Syntax, verdreht Namen, wirft mit Phrasen oder Brocken davon umher, so dass dem präzisen Denker Salvo der Geduldsfaden reißt, wenn er in dem hektischen Geschnatter keinen rechten Sinn erkennt.

Die Popularität von Camilleris Romanen gründet zu einem großen Teil darauf, mit wie leichter Hand, wie treffsicher und konsistent dieser Autor ein sympathisches Sizilien aufleben lässt: Neben Schauplatz- und Figurenzeichnung tragen dazu im Original mindestens ebenso viel die dialektalen Vokabeln sowie Eigenheiten der Aussprache und Grammatik bei, die Camilleri meisterlich gestaltet. Bei allem Respekt für die Leistung des Übersetzers Moshe Kahn muss doch gesagt werden, dass derlei prinzipiell nur teilweise in eine andere Sprache übertragen werden kann, wobei der Ton, die Wärme zwangsläufig auf der Strecke bleibt. Notgedrungen lässt Moshe Kahn in seiner Übersetzung also alle Hochdeutsch sprechen (was auch sonst?), behält aber - eine gute Idee - manch Sizilianisches einfach im Original bei: die verkürzten und endbetonten jovial-vertraulichen Rufnamen »Catarè«, »Adelì« usw., die Anrede »dottori« (statt »dottore«), den Restaurantnamen »Peppucciu 'u piscaturi« (~ Peppe il pescatore). Mehr Sizilianisch geht halt nicht.

Doch wenn Sie gut Italienisch können: Springen Sie ins Wasser und gönnen Sie sich den Genuss der Originalausgabe: »Il campo del vasaio« (Sellerio, 280 Seiten); aller Anfang ist schwer, die sizilianischen Einsprengsel erst einmal befremdlich - doch schnell werden Sie sich in Vigàta einleben. Und wenn Sie noch eins draufsetzen möchten, dann lege ich Ihnen wärmstens die Verfilmungen der RAI ans Herz - mehr zu diesen Schätzen finden Sie in meiner ausführlichen Rezension zu »Il commissario Montalbano«.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner ganz privaten aktuellen Lesetipps aufgenommen.


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